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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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erkannte er Sylvain François – oder glaubte ihn zu erkennen.
    Der Junge hatte sehr kurz geschnittenes rotes Haar und war einen Kopf größer als die anderen. Er wirkte älter als sie, genauer gesagt: schneller gealtert aufgrund eines unsteten Lebenswandels.
    »Sylvain ist derjenige, der …«
    »Schon gut«, unterbrach Volo, »ich habe ihn erkannt. Wo können wir ungestört plaudern?«
    Einige Minuten später saß Cédric Volokine dem Rotschopf in einem kleinen Büro gegenüber, das einer Telegrafistenkabine zu Beginn des 20. Jahrhunderts glich. Eine nackte Glühbirne hing tief über dem Holztisch. In einer Ecke Papierkram, Gedrucktes: Einladungen zu Messen, Ermahnungen zu innerer Sammlung; mit schlechten Fotos und altmodischen Beschriftungen. Volokine dachte einen Augenblick über die Düsterkeit und Weltfremdheit des katholischen Glaubens nach, dann sammelte er sich. Er zog seine Schachtel Craven heraus und bot dem Jungen eine an.
    Sylvain François, hinter der Mauer seines Argwohns verschanzt, nahm eine Zigarette, wie ein Wolf nach dem Stück Fleisch schnappt, das man ihm hinhält. Der Tisch, an dem sie einander gegenübersaßen, war so klein, dass sich ihre Profile fast berührten.
    »Wie lange singst du schon in diesem Chor?«
    »Seit zwei Jahren.«
    »Ätzend, was?«
    »Geht schon.«
    Der Junge verweigerte sich jeglicher Vertraulichkeit. In einem Winkel seines Kopfes notierte sich Volo: Sylvain François muss Schuhgröße 40 haben, daher kann er keiner der Mörder sein. Dennoch spürte der Russe, dass ihm das Gespräch etwas bringen konnte.
    »Wilhelm Götz ist heute nicht da. Weiß du, wieso?«
    »Er wurde ermordet. Alle reden über nichts anderes.«
    Der Junge tat einen langen Zug an seiner Zigarette. Volokine betrachtete seinen Gesprächspartner genauer. Schwarze Augen, der weiße Teint des Rothaarigen, Spuren von Akne, die ihm etwas Undurchsichtiges gaben. Der Bürstenschnitt klemmte seinen Kopf ein wie einen Schraubstock. Ein Schraubstock für scharfe Gedanken.
    Hinter diesem Gesicht sah Volo noch etwas anderes. Eine ganz besondere Geographie des Gehirns. Er hatte Bücher über die funktionalen Zonen des Gehirns gelesen: die Areale, die für die Sinneswahrnehmung, die Sprache, die Emotionen etc. zuständig waren. Die Erziehung formte diese Regionen aus und bestimmte, wie stark sie entwickelt wurden. Der Russe erinnerte sich an die Aussage eines Spezialisten: »Wenn wir das Wolfskind, das im 19. Jahrhundert in Aveyron aufgefunden wurde, mit unseren modernen Apparaten hätten untersuchen können, dann hätten wir festgestellt, dass die für den Menschen spezifischen Hirnareale allenfalls ganz verkümmert ausgebildet waren. Vielmehr hätte die Kartographie seines Gehirns weitgehend mit der des Wolfs übereingestimmt, falls dieses Kind tatsächlich von einem Wolf aufgezogen wurde. Tests seines Geruchssinns hätten ergeben, dass sich in seiner Hirnrinde ein sehr großes Areal für diesen Sinn ausgebildet hatte …«
    Etwas ganz Ähnliches las er in dem Blick Sylvains: ein besonders geformtes Gehirn, das sich von dem der anderen Kinder unterschied. Das Gehirn eines verwahrlosten Kindes, das in einer Welt der Versagungen und Traumatisierungen aufgewachsen war. Eltern, die nichts taugten, tagtäglich Alkohol oder Drogen, Schläge und Gebrüll statt Zuwendung. Ja, eine ganz bestimmte Geographie des Gehirns, mit großen Arealen für Misstrauen, Angst, Aggressivität, Instinkt …
    »Wie war Götz?«
    »Ein armer Kerl. Einsam, alt. Mit seinen Partituren.«
    »Wer hat ihn deiner Meinung nach umgebracht?«
    »Ein alter Schwuler wie er.«
    »Woher weißt du, dass er homosexuell war?«
    »Für so was hab ich einen Riecher.«
    »Hat er sich nie an dich rangemacht?«
    Ein weiterer Zug an der Zigarette. Langsam. Der Junge markierte den »harten Kerl«, den nichts erschüttern kann.
    »Du denkst nur an den Schwanz. Aber Götz war nicht pervers.«
    Instinktiv spürte Volokine, dass er auf die weiche Tour oder mit psychologischen Finessen nichts erreichen würde. Er würde mit dem Jungen so sprechen, wie er es sich selbst im gleichen Alter gewünscht hätte.
    »Okay, Freundchen«, sagte er, »du weißt, was ich wissen will. Also reden wir Klartext. Fünfzig Euro für dich, wenn du ’nen Knüller für mich hast. Eine in die Fresse, wenn du mich anlügst.«
    Sylvain François grinste. Im rechten Oberkiefer hatte er eine Zahnlücke. Dieses schwarze Loch in dem Gesicht des Halbwüchsigen hatte etwas Erschreckendes.
    »Du hast

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