Choral des Todes
geweidet. Nach der Tat fühlten sie sich erfüllt und glücklich. Da haben sie an Gott geschrieben … Sie …«
Das Läuten seines Handys unterbrach ihn. Er nahm das Gespräch an:
»Ja?«
»Vernoux. Wo sind Sie gerade?«
»Faubourg Montmartre.«
»Ich bin in der Kirche Saint-Augustin, im 8. Arrondissement. Kommen Sie her, und beeilen Sie sich.«
»Warum?«
»Wir haben noch einen.«
»Was ›noch einen‹?«
»Noch einen Mord, verdammt! Alle sind da.«
KAPITEL 29
Nachdem sie ihre Ausweise vorgezeigt hatten, gingen sie durch das Kirchenschiff nach vorn. Ein großer düsterer Raum, noch dunkler und kälter als der triste Tag draußen. Nur schwaches Licht fiel durch die Kirchenfenster, versuchte sich vergeblich in der steinernen Finsternis auszubreiten. Dazu noch der Weihrauchduft, ein stechender, bitterer, abweisender Geruch, der durch das Dunkel kroch. Oberhalb der Weihwasserbecken spannten Polizisten in Uniform ein Absperrband. Die beiden Partner zückten ein weiteres Mal ihre Ausweise und schritten durch den Mittelgang.
Als ehemaliger »Aushilfssängerknabe« kannte Volokine zahlreiche Kirchen in Paris, aber er war noch nie in Saint-Augustin gewesen. Die Kirche war riesig. Schon von außen hatten ihn die Kuppel und ihre Kreuze, die ihr ein byzantinisches Aussehen verliehen, beeindruckt. Jetzt überraschte ihn die beklemmende Atmosphäre, die hier herrschte. Negative Schwingungen, eine verhängnisvolle Aura erfüllte den Raum.
Am Ende des Gangs stellten die Typen vom Erkennungsdienst ihre Scheinwerfer auf. Aus der Ferne glich es einer geradezu festlichen Beleuchtung. Ein ungewöhnlich gleißendes Licht, das etwas Sensationelles verhieß, wie wenn man als Passant bei Dreharbeiten in einer Straße vorbeikommt. Doch Volokine ahnte, dass dort, in der Nähe des Altars, jemand lag, der nicht festlich gestimmt war …
Der Gang wirkte endlos lang. Volokine blickte flüchtig um sich. Die Kirche schien aus Lava oder Braunkohle erbaut worden zu sein. Als stamme sie aus grauer Vorzeit. Oder aus den Tiefen der Seele. Entstanden aus einem düsteren Gedanken in einem geheimen Winkel des Gehirns.
Jetzt, da sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erspähte er links und rechts Kapellen, die noch finstrer waren und von weißen und grauen Kirchenfenstern überragt wurden. Schon diese Kirchenfenster ließen einem das Blut in den Adern gefrieren. Sie hatten die silbernen Farben gewisser Zahneinlagen. Volokine spürte diese Kälte bis in seine Kiefer hinein. Er musterte die bleigefassten Figuren, die sich in den Fenstern abzeichneten und dachte an kalte, erbarmungslose Engel, die einer ganz anderen Logik folgten als die Menschen.
Keine Gemälde, oder sie waren in so tiefes Dunkel eingehüllt, dass man sie nicht erkennen konnte. Aufrechte, feierliche Skulpturen, die genauso steif waren wie die Pfeiler, die das Gewölbe trugen. Der gesamte Innenraum war von einem Eisengerüst durchzogen, das an den Eiffelturm erinnerte und verriet, in welcher Epoche die Kirche errichtet worden war: Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch die Leuchter hatten etwas von der Belle Époque. Kugeln, die in Form von Trauben angeordnet waren und auf eisernen Säulen ruhten, welche an gasbetriebene Straßenlaternen erinnerten.
»Verdammter Mist.«
Ein Hüne kam auf sie zu. Er hatte pechschwarze Brauen und trug eine grünglänzende Bomberjacke. Volokine ahnte, das dies Éric Vernoux war, der Chef des Ermittlungsteams.
Der Mann fragte Kasdan:
»Wer ist denn das?«
»Cédric Volokine, Jugendschutzdezernat.« Der Armenier drehte sich zu dem Russen um. »Éric Vernoux, Erste Kriminalpolizeidirektion.«
Volokine streckte ihm die Hand entgegen. Aber der andere dachte gar nicht daran, sie zu ergreifen. Er raunte Kasdan zu:
»Wenn das noch so einer von Ihren Tricks ist …«
»Ich brauche ihn«, versicherte Kasdan. »Vertrauen Sie mir.«
Volokine warf einen Blick bis ans Ende des Gangs. Die Kosmonauten des Erkennungsdienstes waren auf den Altarstufen zugange. Blitzlichtgeräte knatterten. Darüber thronte ein Baldachin, der mindestens zehn Meter hoch war und von dessen Decke ein kupferbrauner, mit leuchtenden Motiven verzierter Vorhang herabhing. Er erinnerte an einen Katafalk. Der Tod hatte sich wirklich den richtigen Ort ausgewählt …
»Folgen Sie mir«, befahl Vernoux.
Er drängte die uniformierten Polizisten zur Seite. In der weißen Lache am Fuß des Altars, direkt vor der ersten Stuhlreihe, lag ausgestreckt ein nackter Mann, den
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