Choral des Todes
Um die vergebende Kraft der Worte hervorzuheben …«
Kasdan war erschöpft. Er winkte den Kellner herbei. Er wollte zahlen. Abhauen. Sich nicht länger all diesen Unsinn anhören.
Aber Volokine fuhr fort – er redete wirklich wie ein Wasserfall:
»Ich werde Ihnen sagen, was bei diesem Fall nicht stimmt. Wir schwimmen, weil keine Theorie widerlegt werden kann. Keine Fährte lässt sich ausschließen.«
Kasdan hielt dem Kellner einen Geldschein hin. Volokine setzte seine Suada fort:
»Glauben Sie an die politische Spur? Sie haben recht. Götz wurde umgebracht, weil er Informationen über seine chilenischen Folterknechte besaß. Erste Tatsache. Er wurde abgehört, weil seine Zeugenaussage auch die französische Regierung betrifft. Zweite Tatsache. Im Übrigen gibt es einen dunklen Fleck bei Götz. Selbst wenn er kein Kinderschänder ist, hat er sich gegenüber Kindern etwas zuschulden kommen lassen. Dritte Tatsache. Folglich rächen die Kinder, die diese Morde begangen haben, seine Schuld. Vierte Tatsache. Andererseits glauben Sie an einen Serienmörder. Und auf die eine oder andere Weise haben Sie recht. Die Kinder, die in diese Taten verwickelt sind, sind psychisch gestört, von einem regelrechten Wahn besessen. Sie glauben, dass ihr krimineller Impuls durch die Musik ausgelöst wird? Auch da denke ich, dass Sie richtigliegen. Grundsätzlich bin ich fest davon überzeugt, dass diese Morde mit der menschlichen Stimme, der Stimme von Kindern zusammenhängen. Schließlich gibt es hinter all dem noch etwas anderes. Eine Bedrohung. Die Person, die Götz El Ogro nannte. Das ist unser Problem, Kasdan: Alles ist wahr. Anders als sonst üblich muss man nicht bestimmte Tatsachen und Spuren aussondern, sondern alles zusammenführen. Man muss den Schlüssel finden, der all diese Aspekte vereint.«
Der Armenier schwieg weiterhin. Er stand auf, griff nach seinem Handy und überprüfte mechanisch seine Nachrichten. Beim Betreten der Kirche hatte er es ausgeschaltet. Gerade hatte er einen Anruf von Puyferrat erhalten.
Mit einem Knopfdruck rief er den Mann von der Spurensicherung an.
»Komm her«, sagte Puyferrat, als er Kasdans Stimme erkannte.
»Wohin?«
»In den Jardin des Plantes, das Treibhaus. Geh durch das Gittertor in der Rue Buffon. Es wird offen sein.«
»Weshalb?«
»Komm her. Du wirst es nicht bereuen.«
KAPITEL 31
Rue Buffon 18 H.
Kasdan parkte auf dem winzigen Gehsteig der geradlinigsten Straße von Paris. Das Unwetter war losgebrochen. Der Regen war so heftig, dass die Finsternis hinter dem flüssigen Schleier zu verschwinden schien. Die Straße verwandelte sich in einen silberglänzenden See, auf dem die Laternen wie Leuchtbojen trieben.
Sie eilten durch den Regen, wobei sie keine drei Meter weit sahen.
Sie öffneten die Gittertür zum Garten. Liefen weiter in Richtung des Glashauses, das in der Finsternis wie ein Eisberg in einem schwarzen Meer glänzte. Nur mühsam – die Tropfen prasselten wie Knüppel auf sie herab – fanden sie den Haupteingang. Kasdan dachte an die Tiere im Jardin des Plantes, die den Wolkenbruch gewiss schicksalsergeben hinnahmen. Wölfe, Geier, Raubkatzen.
Die Tür ging auf. Puyferrat, schmales Gesicht, schwarze Cheyenne-Frisur. Kasdan, der den Kopf mit seiner Drillichjacke geschützt hatte, ließ die Jacke auf seine Schultern sinken. Er zeterte:
»Jetzt erklär mir mal, was das hier soll!«
Der Techniker lächelte. Er hatte schmale, zusammengekniffene Lippen, wie geschaffen, um Pfeife zu rauchen.
»Nur ruhig Blut, mein Schatz.«
Er runzelte die Brauen, als er Volokine erblickte. Diesmal stellte Kasdan die beiden einander vor:
»Cédric Volokine, Jugendschutzdezernat. Puyferrat, Erkennungsdienst.«
Die beiden Männer gaben sich die Hand. Kasdan betrachtete bereits die Flora, die sie unter dem Glasdach erwartete. Ein üppiger, dampfender Dschungel, grün und weiß getüpfelt. Die riesigen Stämme waren hinter dem dichten Blattwerk nahezu unsichtbar. Nur an einigen Stellen sah man ihre behaarte Rinde, ihre von Lianen umschlungenen Umrisse. Ein unbeschreibliches, stickiges, organisches Wirrwarr, das unter der riesigen Glasglocke bedächtig atmete.
Puyferrat schlug einen mit Platten belegten Weg in diesen künstlichen Wald ein. Die beiden Partner folgten ihm. Man hörte nur das Rascheln ihrer Jacken an den Blättern und das Regengeprassel auf der Kuppel. Stumm stapften die Ermittler dahin, wobei sie das Ungewöhnliche einfach ausblendeten – die Zeit ihres Besuchs, die
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