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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Tatsache, dass es im ganzen Museum kein Personal gab.
    Sie gelangten auf eine Art Lichtung, wo die Bäume und die anderen Pflanzen zurückwichen. Eine Frau erwartete sie. Sie war kleinwüchsig und trug eine Regenjacke, deren Ärmel fast ihre Hände bedeckten. Ein langes blasses Gesicht, eingerahmt von schwarzen Haaren, die eine Art Kapuze formten. Sie hatte etwas Orientalisches. Vielleicht waren es ihre langen schwarzen Wimpern. Oder die Ringe unter ihren dunklen, feuchten, sehnsuchtsvollen Augen.
    »Ich stelle euch Avishân Khajameyi vor.«
    Kasdan drückte ihr die Hand – er war pudelnass von dem Wolkenbruch und der Feuchtigkeit der Pflanzen. Volokine nickte im Hintergrund.
    »Guten Abend. Sind Sie Botanikerin?«
    »Nein, Professorin für Aramäisch und außerdem Expertin für Bibelgeschichte.«
    Der Armenier warf einen Blick auf Puyferrat.
    »Der Botaniker des Museums ist verhindert. Aber er hat mir erlaubt, hierherzukommen, um dir dies zu zeigen.«
    Der Techniker drehte sich um und wies auf einen grauen Baum, dessen Zweige dicht mit Dornen übersät waren – eine Üppigkeit, die an die Fülle der Blätter anderer Arten im Treibhaus erinnerte, nur dass sie auf vage Weise bedrohlich wirkte.
    »Die Seyal-Akazie, und zwar eine besondere Art aus der Familie.«
    »Was soll das bedeuten?«
    »Von dieser Baumart stammen die Splitter, die wir auf der Empore von Saint-Jean-Baptiste und auf dem Flur vor Naseers Dienstbotenzimmer gefunden haben. Um genau zu sein: Das, was ich für Splitter gehalten hatte, waren Dornen. Es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Holzsorte. Im Gegenteil. Als ich die Analyse-Ergebnisse erhielt, habe ich beim Jardin des Plantes angerufen. So habe ich erfahren, dass diese Akazie nur in den semiariden Regionen des Orients wächst. Vor allem in der Wüste Negev und auf dem Sinai, in Israel.«
    »Sie wächst nicht in Europa?«
    »Nein. Diese Akazie braucht Wärme, Sonne und einen mystischen Hauch …«
    »Wieso mystisch?«
    Die Frau ergriff das Wort:
    »Diese Baumart spielt in der Bibel eine große Rolle. Aber vor allem könnte es sich um den Baum handeln, aus dessen Zweigen die Dornenkrone Christi hergestellt wurde. Die Legionäre sollen Zweige dieses Baumes benutzt haben, um Jesus zu ›krönen‹ und zu verspotten.«
    Die Professorin sprach mit iranischem Akzent und modulierte ihre Stimme kaum, sodass sie etwas Hypnotisches hatte. Kasdan dachte an die Schlange Kaa aus dem Dschungelbuch .
    »Tatsächlich«, fuhr die Expertin fort, »weiß man nicht genau, aus welcher Pflanze die Dornenkrone Christi gefertigt wurde. Es gibt mehrere Meinungen. In Erwägung gezogen werden der Gemeine Stechdorn, die Dornige Bibernelle, der Syrische Christusdorn, Purgier-Kreuzdorn und sogar der Christusdorn. Doch was die letztgenannte Pflanze angeht, so ist diese Namensgebung missverständlich, denn dieser Baum wird wegen seiner Dornen und seiner roten Blüten, die an Blutflecken erinnern, so genannt. Tatsächlich war er zur damaligen Zeit in Palästina unbekannt. Nein, meines Erachtens wurden Zweige der Seyal-Akazie verwendet. Im Hebräischen ist noch heute der Plural Shittim gebräuchlich, wegen der Dornen, die ein dichtes Gewirr bilden …«
    Kasdan wandte sich Puyferrat zu, der lächelnd fortfuhr:
    »Okay. Ich werd Klartext mit dir reden. Daraus lässt sich mindestens zweierlei folgern. Erstens, diese Baumart hat in Paris nichts verloren. Wir stehen hier an dem einzigen Ort in der Hauptstadt, wo man sie findet. Das Zweite – aber das hast du wohl schon überrissen – ist ihre symbolische Bedeutung. Ich weiß nicht, was der Mörder mit dieser Pflanze am Hut hat. Ob er eine Dornenkrone auf dem Kopf trägt oder Schuhe aus geflochtenen Akazienzweigen, aber offenkundig gibt es einen Zusammenhang mit Christus.«
    Schweigen.
    »Eine Verbindung zu Christus«, wiederholte der Techniker, »und zur Sünde.«
    »Ihr Kollege will damit sagen«, fuhr die Iranerin fort, »dass diese Baumart sowohl das Leiden Christi als auch die Vergebung der Sünden der Menschen symbolisiert. Je mehr Christus körperlich gelitten hat, desto mehr Sünden der Menschen hat er symbolisch auf sich genommen.«
    Kasdan schwirrten alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Er hörte jetzt ganz deutlich das Tick-Tick-Tick, das am Vortag im Flur vor seiner Wohnung widergehallt hatte. Ein Stock. Ein Stab. Der Mörder hatte einen Stock, den er wie ein Blinder benutzte, um den Boden vor ihm »abzutasten«. Und dieser Stock war aus dem gleichen Holz

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