Choral des Todes
Ermittler in diesem Fall zwei anonyme Personen waren, die sich eigentlich gar nicht hier aufhalten durften.
KAPITEL 30
»Nur falls es Ihnen entgangen sein sollte: Der Schriftzug am Boden der Kirche ist ebenfalls ein Zitat aus Psalm 51, dem Text des Miserere .«
Kasdan antwortete nicht. Er hatte sich am Vortag nicht einmal die Mühe gemacht, den Psalm ganz zu lesen. Guter Gott: Er wurde alt. Er wurde alt, und sie standen mit leeren Händen da.
»Dieser Text ist der Schlüssel.«
»Tatsächlich?«, meinte der Armenier übellaunig.
Er trank einen Schluck Kaffee. Scheußlich. Um Bilanz zu ziehen, hatten sie sich eine Café-Brasserie in der Rue La Boétie ausgesucht. Strahlende Wandleuchten, die ihn an die Kugellampen in der Kirche Saint-Augustin erinnerten. Währenddessen wurde es draußen immer finsterer: Ein Unwetter braute sich zusammen.
Volokine beugte sich zu ihm. Er drehte seine kleine Flasche Coca-Cola light zwischen seinen beiden Handtellern. Kasdan begann sich an seine plötzlichen Stimmungsumschwünge zu gewöhnen. Der Typ versuchte sich selbst zu entzünden. Zweifellos eine Folge der Entzugserscheinungen. Es sei denn, er nahm heimlich was.
»Ich würde Ihnen gern mehr über Psalmen erzählen.«
»Kein Problem. Du scheinst dich ja auszukennen.«
»Die meisten Gebete des Buches der Lobpreisungen sollen von König David persönlich geschrieben worden sein. David, der nicht nur König, sondern auch Prophet und Dichter war …«
»Ja und?«
»David ist die Personifikation von Sünde und Vergebung.«
»Wieso?«
»Ein bisschen biblische Geschichte wird Ihnen nicht schaden. Eines Tages erblickt David eine Frau, die badet. Es ist die Frau des Hetiters Urija. Er begehrt sie. Er macht ihr den Hof. Da ist nur das Problem, dass sie verheiratet ist. Sie sehen, dass sich seit dreitausend Jahren nicht viel geändert hat. Aber David ist ein König, ein Mann der Macht. Er befiehlt Joab, seinem Heerführer: ›Stellt Urija nach vorn, wo der Kampf am heftigsten ist, dann zieht euch von ihm zurück, sodass er getroffen wird und den Tod findet …‹ David begeht also zwei Sünden: Ehebruch und Mord. Im Übrigen stand sein Schicksal fest.«
»Wieso?«
»Weil er rothaarig ist. David ist der rote König. Derjenige, der Blut an den Händen hat. Auf der Haut. Er wurde bei seiner Geburt gezeichnet.«
»Wie endet die Geschichte?«
»David fleht Gott um Vergebung an, und Gott gewährt sie ihm. Er wird wieder ›weißer als Schnee‹, wie es im Miserere heißt.«
»Danke für die Nachhilfestunde. Worauf willst du hinaus?«
»Immer auf das Gleiche. In diesen Auszügen aus dem Miserere geht es um Schuld und Vergebung. Die Mörder opfern diese Sünder, um sie zu bestrafen, aber auch, um sie zu retten. Aus diesem Grund fügen sie ihnen diese symbolischen Verstümmelungen zu.«
»Wir haben noch immer nicht den geringsten Beweis dafür, dass unsere Mordopfer sich auf irgendeine Weise schuldig gemacht hätten.«
Volokine nahm einen kräftigen Schluck Coca Null.
»Für die ersten beiden Opfer trifft das zu. Doch bei dem Toten von heute ist es anders. Ich kenne die Sünde von Pater Olivier.«
»Was redest du da?«
»Im Zivilleben hieß der Kerl Alain Manoury. Ich hab ihn sofort wiedererkannt. Ein alter Bekannter von uns, wie man so schön sagt. Beim Jugendschutzdezernat, will ich damit sagen.«
»Bekannt weswegen?«
»Pädophilie, Exhibitionismus, körperliche Belästigung, Übergriffe – die ganze Palette. 2000 und 2003 wurde gegen ihn ermittelt. Es wurde eng für Manoury. Aber es gab interne Mauscheleien. Auf Druck des Erzbistums haben die Eltern ihre Anzeigen zurückgezogen. Manoury hat nicht einmal seinen Posten verloren. Beweis: seine heutige Anwesenheit in Saint-Augustin. Eines ist sicher: Pater Olivier war ein Sünder.«
Kasdan war verblüfft. Der Russe hatte wirklich einiges zu bieten.
»Die Bestrafung«, fuhr Volokine fort. »Das ist der Schlüssel zur Aufklärung der Morde. Eine Strafe, die mit den Worten des Gebets verschmilzt. Der erste Schriftzug lautete: ›Befrei mich von Blutschuld, Herr, du Gott meines Heiles, dann wird meine Zunge jubeln über deine Gerechtigkeit.‹ Der Mörder hat Naseer die Zunge herausgeschnitten. Der zweite Schriftzug lautet: ›Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir missfällt.‹ Der Mörder entfernt die Augen des Priesters. Diese Verstümmelungen sind Opferhandlungen. Sie verleihen den Worten des Miserere Gewicht. Sie geben dem Gebet konkreten Ausdruck.
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