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Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)

Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition)

Titel: Christiane F. – Mein zweites Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane V. Felscherinow , Sonja Vukovic
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heranpirschte, und ging weiter, ohne etwas zu erwidern.
    Christiane biss in ihr Brötchen, dann fragte sie mich mit halb vollem Mund: „Wann genau soll es denn nach Paris gehen? Ich muss mich rechtzeitig um einen Hundesitter kümmern.“
    Mir hatte es kurz die Sprache verschlagen. Nicht, weil sie die fremde Frau zurechtgewiesen hatte. Nein, ich war ehrlich beeindruckt davon, wie Christiane die Lage binnen weniger Sekunden, quasi neben einem Gespräch über ein ganz anderes Thema, eingeschätzt hatte.
    Die Intensität, mit der Christiane manchmal blitzschnell ihre Umgebung wahrnimmt, und von all diesen Eindrücken auch oft schrecklich aufgerieben ist, das ist neben ihrer großen Tierliebe wohl ein bedeutender Wesenszug. Eine Eigenschaft, in der sehr viele Fragen und Antworten rund um ihre Person verborgen liegen, die Empfindlich- wie Empfindsamkeiten offenbart, Fehlbarkeiten genauso wie eindrucksvolle Stärken und leidenschaftliche Hingabe. Wer Christiane so beobachtet, wie sie beobachtet, findet womöglich Zugang zu ihr.
    Die im Jahr 2010 verstorbene Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller beschrieb diesen eindringlichen Feinsinn als ein „Gefühlswirrwarr“, das durch einen Zwiespalt zwischen Vaterliebe und Vaterhass in Christianes Kindheit entstanden sein mochte. Weil das Mädchen die Schläge und die Vernachlässigung ihres Vaters tolerierte und ihn allen Schmerzen und Demütigungen zum Trotz sogar respektierte und liebte.
    Miller argumentiert in ihrem 1980 erschienenen Werk „Am Anfang war Erziehung“, dass der Drogengenuss der jugendlichen Christiane F. eine Art Selbsttherapie gewesen sein könnte, der sie sich unterzog, um dieses Gefühlschaos zu zähmen. Anstatt wütend auf ihren Vater zu sein, habe sie ihr Leid lieber betäuben wollen.
    Für viele Kinder fühle es sich besser an, die Fehlbarkeit ihrer Eltern zu verstehen, statt daran zu verzweifeln. Doch in der Folge wird bis in das Erwachsenenleben hinein ihr Urvertrauen nachhaltig gestört. Im Verständnis der Psychoanalyse befähigt das „Urvertrauen“ Menschen dazu, ihre Umwelt differenziert wahrzunehmen und zu beurteilen und so etwas wie Zuversicht im Umgang mit sich und anderen zu entwickeln.
    Glück und Unglück liegen für Christiane bis heute noch sehr nah beieinander. Vertrauen fällt ihr manchmal schwer, auch in Bezug auf sich selbst.
    Es ist lange her, dass Christiane Felscherinow über sich selbst etwas Gutes in der Presse las. Von „Schatten der Vergangenheit“ berichtete 2006 die Frankfurter Rundschau, das Hamburger Abendblatt titelte schon zehn Jahre zuvor: „Das verpfuschte Leben der jungen Fixerin Christiane F.“ „Der Kampf der Christiane Felscherinow gegen Christiane F.“, hieß es in der Park Avenue (2008), und das „Magazin am Wochenende“ der Berliner Zeitung zitierte in der Überschrift über einer langen Reportage aus einem Lied, das Christiane mit 20   Jahren aufgenommen hatte: „Ich bin so süchtig“.
    Laut „Bild“ konnte sie die „Schatten ihrer Vergangenheit“ niemals abschütteln. Die Zeitung berichtete im Januar 2011, Christiane F. sei wieder „im Junkie-Millieu gesehen“ worden. „Christiane F. bei Drogenrazzia durchsucht“, titelte die BZ einen Tag zuvor. Beide Boulevardblätter erwähnten nur im Nebensatz, dass die Polizisten keine Drogen fanden, als sie Christianes Handtasche durchsuchten.
    Lebt sie noch? Fixt sie noch? Das waren meist auch die ersten Fragen, wenn ich von meiner Arbeit mit ihr erzählte. Natürlich ist die Frage, ob Christiane noch Junkie sei oder nicht, logisch und legitim. Sie ist aber auch sehr schnell beantwortet: Ja, Drogen waren immer und sind auch bis heute ein Teil ihres Lebens. Aber eben auch nur ein Teil davon.
    Durch die Arbeit mit ihr und durch die Gespräche mit Experten aus Drogenhilfe und Suchtmedizin, die ich für die Sachkapitel in diesem Buch führte, wurde mir bewusst, wie komplex das Thema der Opiatabhängigkeit tatsächlich ist. Und dabei ist Junkie nicht gleich Junkie. Natürlich gibt es die gesundheitlich und sozial verwahrlosten Abhängigen, Menschen mit multiplen psychiatrischen Diagnosen, die sich selbst und jeglichen Bezug zur normalen Gesellschaft aufgegeben haben. Aber sehr viele andere haben nichts mehr mit der Szene gemein, die die breite Öffentlichkeit aus „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ kennt.
    Es gibt auch Lehrer, Polizisten und Banker, die regelmäßig Heroin nehmen. Es gibt Opiatkonsumenten, die Familie haben und gesundheitlich weitgehend

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