Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200
geistliche Salbung durchsetzte, wurde sie als sichtbarer Ausdruck göttlicher Begnadung des Königs begriffen und wirkte sich auf seine zeremonielle Selbstdarstellung aus; sie gewährte eine sakrale Legitimation, förderte mit der Zeit aber auch die Vorstellung vom Königtum als einem von Gott verliehenen und durch Männer der Kirche vermittelten Amt. In diesem Sinne hat die Karolingerzeit manches theoretische Schrifttum hervorgebracht, das Rolle und Aufgaben des Königs nach biblischen, patristischen und klassisch-antiken Mustern ethisch zu fundieren suchte. In der Praxis hingen die Befugnisse des Herrschers, die in der umfassenden Banngewalt des militärischen Anführers wurzelten und nirgends positiv oder negativ umschrieben waren, wesentlich von seiner persönlichen Autorität und von seinem Geschick ab, die adlige Führungsschicht hinter sich zu einen.Rebellionen, die sich nie gegen die Monarchie, sondern stets gegen die Bevorzugung anderer Adelskreise durch den Herrscher richteten, blieben nicht einmal unter Karl dem Großen aus und wurden im 9. Jh. bei wachsender Rivalität zwischen den Karolingern zu einer permanenten Gefahr, die anzeigt, daß die maßgebliche Beteiligungan den politischen Entscheidungen von der Aristokratie als erzwingbares subjektives Recht angesehen wurde.
Abb. 2: Pfalzkapelle Karls des Großen (Oktogon) in Aachen
Forum und Instrument der Beherrschung des ausgedehnten Reiches war der königliche Hof, dessen Gestalt zur Zeit Karls rückblickend 882 von Erzbischof Hinkmar von Reims beschrieben worden ist[ 30 ] und prägend auf das gesamte Mittelalter gewirkt hat. Seinen Kern bildeten die Königin und die übrige Familie, deren Hauswesen – nach dem Wegfall des Hausmeiers – von den Inhabern der vier alten Hofämter getragen wurde: Kämmerer, Seneschalk/Truchseß, Mundschenk und Stallgraf/Marschall. Sie überließen jedoch die elementare Versorgung des Hofes nachgeordneten Beauftragten und waren selbst als enge Vertraute des Königs mit der Verwaltung seiner Güter und Einkünfte, mit militärischen und diplomatischen Aufgaben sowie mit allgemeiner politischer Beratung befaßt. Von den Merowingern übernommen war auch das Amt des Pfalzgrafen, der den König in seiner gerichtlichen Tätigkeit unterstützte und zunehmend vertrat, während die Neuordnung des geistlichen Hofdienstes in Gestalt der Hofkapelle unter einem obersten Kapellan auf Pippin zurückgeht. Er hatte einen Verband der in seinem Umkreis lebenden und ihm persönlich ergebenen Kleriker formiert, denen die Obhut der siegverheißenden Reliquien und der Vollzug des herrscherlichen Gottesdienstes übertragen waren. Daneben fiel ihnen an Stelle der merowingischen
referendarii
aus dem Laienstand der gesamte Schriftverkehr zu, so daß sich innerhalb der Hofkapelle eine auf Urkunden und Briefe spezialisierte Gruppe von «Notaren» bildete, die unter der Leitung eines «(obersten) Kanzlers» für die Formulierung der politischen Entschlüsse zuständig wurde. An deren Vorbereitung waren zudem nach freiem Ermessen des Königs weltliche und geistliche Große beteiligt, die sich in wechselnder Anzahl am Hof aufhielten und bei Bedarf auch auf förmlicheren Hoftagen ihren Rat erteilten. Von Zeit zu Zeit wurde darüber hinaus auch das Forum der aus der Heeresversammlung hervorgegangenen, gleichfalls aristokratischen Reichsversammlung gesucht, die den Rahmen für die größeren Entscheidungen abgab.
Ihren programmatischen Ausdruck fand die am Hof beratene Politik in den schon erwähnten Kapitularien, die in katalogartiger Anlage ein breites Spektrum von generellen Normen über administrative Anweisungen bis hin zu religiöser Belehrung umfassen. In besonderen Fällen wie Karls Admonitio generalis von 789[ 31 ] oder Ludwigs Admonitio ad omnes regni ordines von 825[ 32 ] nehmen die Texte den Charakter umfassender Reformkonzepte an. Der Anspruch auf reichsweite (oder sonstwie räumlich abgegrenzte) Geltung hebt die Kapitularien grundsätzlich von den Leges der einzelnen Völker ab, als deren Ergänzung sie zumindest teilweise betrachtet wurden. Ihre Rechtsbasis war die allgemeine Regierungsgewalt des Königs, der jedoch nicht selten auf Reichsversammlungen und öfter wohl noch informell einen Konsens der Großen herbeiführte, wovon die Durchsetzbarkeit wesentlich abhing. Der Effektivität sollte auch die schriftliche Fixierung dienen, die neben der mündlichen Verkündung wachsendes Eigengewicht und gelegentlich sogar die Priorität gewann,
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