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Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200

Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200

Titel: Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Erbansprüche zu Lasten einer freien, «amtsrechtlichen» Verfügung des Königs, die selbst Karl der Große und sein Sohn eher selten durchsetzten. Sie waren es, die die Gerichtsbarkeit des Grafen mit seinen nunmehr ständigen Beisitzern, den Schöffen, zu einer Erscheinungsform ihrer königlichen Autorität ausgestalteten. Vertreten und unterstützt wurden die Grafen von weiteren Amtsträgern, deren Bezeichnung als
centenarius
(von
centena
, Hundertschaft) auf eine ursprünglich eher personale als räumliche Zuständigkeit hindeutet; auch sie traten vornehmlich in der ambulanten Rechtspflege hervor.
    In ihren Grundzügen wird die Grafschaftsverfassung vor allem normativ durch Kapitularien faßbar, hatte sich in der Praxis aber flexibel den historisch bedingten Unterschieden der Reichsteile anzupassen und wurde zudem überlagert durch die individuelle Privilegierungnicht weniger Personen und Institutionen. Namentlich große Kirchen samt ihrem Besitz und den damit verbundenen abhängigen Leuten ließen sich den karolingischen Königsschutz zusammen mit der Immunität verbriefen, die sie der Amtsgewalt des Grafen und des Centenars entzog. Darin lag indes nur vordergründig eine Durchbrechung der herrschenden Ordnung, denn die rechtliche Ausnahmestellung erforderte für die gerichtliche Vertretung des Bischofs oder Abtes nach außen wie auch für die interne Rechtsprechung einen laikalen Vogt (
advocatus
), der seine Funktion zwar nur im Auftrag versah, aber doch einen Rechtstitel zu eigenständiger Machtausübung in die Hand bekam und daher, sofern er nicht ohnehin dem Adel entnommen war, rasch unter die Großen der Gegend aufrückte. In weniger formeller Weise dürfte grafenähnliche Autorität aber auch von sonstigen mächtigen Grundherren für ihren Besitz- und Einflußbereich beansprucht und durchgesetzt worden sein, ohne daß es dazu einer königlichen Legitimation bedurfte. Das Selbstbewußtsein dieser politisch unentbehrlichen Schicht setzte nicht bloß jedem Amtsgedanken von vornherein Grenzen, sondern nötigte den Karolingern schon seit Ludwig dem Frommen Zugeständnisse ab, durch die auch mehrere Grafschaften einer Familie zufallen und sich überdies mit Vogteien und missatischen Befugnissen zu neuen, faktisch erblichen Regionalgewalten verbinden konnten.
    Oberhalb der Grafenebene haben die Karolinger bis 788 alle aus der Merowingerzeit stammenden Dukate («Herzogtümer») beseitigt und fortan ein Jahrhundert lang keine derartigen Mittelgewalten zugelassen. Allenfalls in fernen Randzonen ihres Reiches wie der Bretagne, Waskonien, Benevent oder Kärnten (und analog im Kirchenstaat der römischen Bischöfe) waren Karl der Große und Ludwig der Fromme bereit, die mehr oder minder autonome Hoheit einheimischer Fürsten anzuerkennen. Neue Großeinheiten, die sie selbst im Zuge ihrer Familienpolitik durch die gesonderten Königsherrschaften ihrer Söhne in Aquitanien und Italien, nach 814 auch in Bayern schufen, suchten sie ihrer obersten Aufsicht nicht entgleiten zu lassen. Davon zu unterscheiden sind Grafen, diein Grenznähe mit besonders ausgedehnten Sprengeln und gesteigerten militärischen Befugnissen ausgestattet waren, um potentielle äußere Feinde in Schach zu halten. Für sie kam im Laufe des 9. Jhs. die Bezeichnung
marchio
(«Markgraf») auf, die im einzelnen unterschiedliche Rechtsstellungen subsumiert. Man findet sie nördlich der Unterelbe, gegenüber den Bretonen und an der Grenze zum islamischen Spanien, im Osten gegenüber den Elbslawen (Sorben), an der mittleren Donau sowie in Friaul. Ihre machtvolle Sonderstellung sollte einigen von ihnen im Wettstreit der Großen am Ende der Karolingerzeit den entscheidenden Vorteil verschaffen.
Materielle Voraussetzungen
    Die Könige ebenso wie die gesamte weltliche und geistliche Führungsschicht lebten von den Erträgen bäuerlicher Arbeit, deren vorwiegende Organisationsform zur Karolingerzeit (und darüber hinaus) mit dem modernen Begriff Grundherrschaft bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um arbeitsteilig aufgebaute Großbetriebe, die nach älteren Wurzeln und Vorformen im 8. Jh. zwischen Seine und Rhein zu ihrer klassischen Gestalt fanden, offenbar weil sie für die erforderliche Steigerung agrarischer Produktivität den günstigsten Rahmen boten. Ihr Siegeszug ist als Nivellierung herkömmlicher Unterschiede in sozialer, rechtlicher und regionaler Hinsicht sowie als räumliche Ausdehnung über die
Francia
hinaus zu verstehen. Das Grundmuster, das

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