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Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200

Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200

Titel: Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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was von einem im Frühmittelalter bemerkenswerten Zutrauen in die Möglichkeit zeugt, das Verhalten einer ganz überwiegend oralen Gesellschaft mittels geschriebener Verfügungen zu steuern. Die Verbreitung der zunächst einzeln in Umlauf gekommenen Texte mündete in private Sammlungen, unter denen die des Abtes Ansegis von Saint-Wandrille, 827 abgeschlossen, schnell die höchste Autorität erlangte[ 33 ]. Das Bestreben, dem erklärten Willen der Zentrale möglichst überall Respekt zu verschaffen, ist auch daran zu erkennen, daß ein Teil der Kapitularien ausdrücklich an Königsboten gerichtet war, die vom Hof ausgesandt wurden, um in einem bestimmten Bezirk, ihrem
missaticum
, Verwaltung und Rechtspflege zu überwachen, Treueide einzufordern und gegen Fehlentwicklungen einzuschreiten. Die Wirkung bleibt freilich ungewiß, denn, um ernstgenommen zu werden, mußten diese
missi
(Laien wie Kleriker) derselben adligen Führungsschicht entnommen sein wie die hauptsächlich zu Kontrollierenden und konnten allenfalls ein gewisses Gegengewicht zu den regionalen Machthabern schaffen, die es im Laufe des 9. Jhs. verstanden, die Missatgewalt als zusätzlich legitimierenden Rechtstitelan sich zu ziehen. Trotz aller Hemmnisse in der Praxis ist jedoch der zentrale Gestaltungswille Karls und Ludwigs auf Jahrhunderte einzigartig geblieben.
    Was unter den gegebenen Bedingungen an Reformen nicht nur im kirchlichen, sondern auch im weltlichen Bereich angepackt wurde, war vielfältig und von dauerhafter Wirkung. Musterbeispiel ist das Geldwesen, das durch eine Zersplitterung der Münzprägung seit langem in völlige Konfusion geraten war; hier gelang es, die königliche Prärogative zurückzugewinnen und den weiten Radius der Herrschaft zu nutzen, um einheitlich seit 793/94 einen Silberdenar von 1,7 g durchzusetzen, der zur Basis einer haltbaren Währungsordnung (mit dem Solidus/Schilling zu 12 Denaren und dem Pfund zu 20 Solidi als höheren Rechnungseinheiten) geworden ist. Politisch noch bedeutsamer war die Umgestaltung des fränkischen Heeres, das in der traditionellen Form eines Aufgebots aller waffenfähigen Freien den Gegebenheiten des Großreiches nicht mehr angemessen war. Karl reduzierte daher nach 800 die allgemeine Heerfolgepflicht, indem er sie nach Besitzgröße staffelte und sich im übrigen mit einer Art Landwehr für den Notfall begnügte, und verließ sich stattdessen für den entscheidenden Reiterkampf zunehmend auf die gerüsteten Gefolgsleute der Großen, die dadurch weiter an Gewicht gewannen. Auch im Gerichtswesen wurden Mißstände auf veraltete Gepflogenheiten zurückgeführt und dadurch überwunden, daß man die Zahl der allgemein verpflichtenden Verhandlungstermine auf drei im Jahr beschränkte, dafür aber die Urteilsfinder nicht mehr von Fall zu Fall bestellte, sondern zu ständigen Schöffen überging, die auch sonst aus gegebenem Anlaß tätig werden konnten. Dazu kamen als weitere Neuerung die sogenannten Rügezeugen, die eidlich verpflichtet waren, Missetaten auch dann vor Gericht zu bringen, wenn die Geschädigten dies nicht tun konnten oder wollten, was offenbar der Eindämmung bewaffneter Selbsthilfe dienen sollte.
Regionale Machthaber
    Nicht nur um seinem Willen überall Geltung zu verschaffen, sondern auch um die im ganzen Reich verteilten Ressourcen verfügbar zu halten, war das Königtum auf loyale Beauftragte in den einzelnen Regionen angewiesen. Von den Merowingern übernahmen die Karolinger die Institution der Grafschaft, die sie weit über das angestammte Gallien hinaus, meist anknüpfend an vorgefundene politische Einteilungen wie auch naturräumliche Gegebenheiten, in den hinzugewonnenen Gebieten rechts des Rheins und südlich der Alpen ausbreiteten, ohne aber jemals zu einem völlig lückenlosen Netz mit linearen Grenzen zu gelangen. Die Grafen (
comites
) wurden als Sachwalter des Königs in allen Belangen, zuständig zumal für die Friedenswahrung, den Königsschutz, die Abgabenerhebung und das Heeresaufgebot, betrachtet und gingen als Teilhaber der öffentlichen Gewalt selbstverständlich aus dem adligen Herrenstand hervor, der auf diese Weise in seinem sozialen Vorrang anerkannt und zugleich in die übergreifende monarchische Ordnung einbezogen werden sollte. Je nach den landschaftlichen Kräfteverhältnissen beruhte die gräfliche Macht bald mehr auf eingebrachtem Eigenbesitz, bald stärker auf übertragenen Königsgütern, bot in jedem Falle aber den Keim für dynastische

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