Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200
gerade für die aufgezeichnete Lex Salica konkrete Zeugnisse ihrer Verwendung im Rechtsleben fehlen. Karls betonte Pflege der einzelnen Volksrechte (Leges) mag daher mehr auf Wahrung des hergebrachten ethnischen Gefüges bedacht gewesen sein als auf bewußte Rechtspolitik, die man eher in allgemeinen Verordnungen (Kapitularien, ohne gentilen Bezug) sowie in Beschlüssen bischöflicher Synoden zu gestalten suchte. Forderungen einer geistlichen Elite um Erzbischof Agobard von Lyon († 840), die zur Zeit Ludwigs des Frommen darauf hinwirkte, «die Vielfalt der Volksrechte» im Geiste des Christentums zu überwinden, weil vor Gott kein Unterschied sei zwischen «Aquitaniern und Langobarden, Burgundern und Alemannen», und stattdessen zu einer allen gemeinsamen
Lex Francorum
gelangen wollte[ 26 ], stießen politisch ins Leere, offenbar weil sie der vorwiegenden Erfahrung von Unterschiedlichkeit zuwiderliefen. Ein eher gangbarer Weg der Integration, den Karl frühschon einschlug, lag darin, nicht nur Gefolgsleute aus dem eigenen fränkischen Herkunftsmilieu, sondern auch aus den Führungsschichten der übrigen Völker an der Ausübung der Herrschaft zu beteiligen und deren Verschwägerung mit dem fränkischen Adel zu begünstigen. Karl selbst gab ein Beispiel, indem er nacheinander Ehen mit einer Langobardin, einer Alemannin, einer Fränkin schloß und sich später auch noch mit einer Sächsin verband. Jedenfalls formierte sich binnen weniger Jahrzehnte eine Anzahl hochmögender Familien, die im Dienste der Karolinger zu Ämtern, Besitz und Verwandtschaft in mehreren, mitunter weit auseinanderliegenden Regionen gelangt war und von der Forschung als Reichsaristokratie bezeichnet worden ist; aus ihr gingen gegen Ende des 9. Jhs. diejenigen Machthaber hervor, die die Karolinger im Königtum ablösten.
Zur Vielfalt der Völker gehörten seit jeher auch sprachliche Unterschiede, wenngleich davon das Gemeinschaftsbewußtsein nicht entscheidend bestimmt wurde. Immerhin taucht 813 ein erster Beleg für die begriffliche Differenzierung von romanischer und germanischer Volkssprache (
rustica Romana lingua aut Theotisca
) im Gegenüber zur Kirchen- und Schriftsprache Latein auf[ 27 ]. 842 wurde beim Bündnis der beiden karolingischen Brüder Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle in Straßburg Wert darauf gelegt, die Eide öffentlich in der Sprache des jeweils anderen Heeres zu deklamieren: von Ludwig also auf altfranzösisch, von Karl auf althochdeutsch[ 28 ]. Der Terminus
theodiscus
scheint in den Anfangsjahren Karls des Großen, vielleicht im Zusammenhang der Kontakte zum Papst, geschaffen worden zu sein, um mit einem lateinischen Wort die alltäglich gesprochene Sprache bezeichnen zu können. Das von germanisch
theoda
abgeleitete Lehnwort bedeutete eigentlich «volkhaft», war noch ohne politischen Gehalt und insofern 786 auch auf das Angelsächsische anwendbar, ist aber bei insgesamt spärlicher Verwendung im 9. Jh. vorwiegend als Äquivalent für «fränkisch» gebraucht worden, ebenso wie seine um 830 aufgekommene gelehrte Abwandlung zu
teutonicus
. Da beidem wohl die exakte volkssprachige Entsprechung fehlte, darf die Breitenwirkungdieser von jedem Einzelvolk abstrahierenden Begriffsbildung nicht überschätzt werden. Eine bedachtsame Förderung der Volkssprachen, namentlich des Fränkischen, ist Karl dem Großen mit Hinblick auf Einhards Bericht über seine Sorge um alte «barbarische» Lieder und um einheimische Monats- und Windnamen[ 29 ] immer wieder zugeschrieben worden, bleibt jedoch in ihrer Intensität und Wirkung zumindest undeutlich. Jedenfalls hatte die philologisch zu erschließende Verfestigung der romanisch-germanischen Sprachgrenze in der Karolingerzeit keine erkennbare Bedeutung für die politische Geographie des Reiches. Beiderseits dieser Linie kann von in sich geschlossenen Sprachräumen, in denen jeder jeden verstanden hätte, ohnehin nicht die Rede sein.
Die Regierung des Großreiches
Den Zusammenhalt des Riesenreiches zu gewährleisten, oblag zuallererst dem Königtum, das von 751 bis 887 im exklusiven Besitz der männlichen Nachkommen Karl Martells war. Ihr geblütsrechtlicher Herrschaftsanspruch schloß nicht aus, daß bei Erbteilungen und Regierungsantritten eine akklamatorische Zustimmung der Großen herbeigeführt wurde, was im späteren 9. Jh. angesichts der familiären Entwicklung der Karolinger auch wieder einen gewissen Spielraum zu bewußter Auswahl mit sich brachte. Soweit sich die
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