Christianisierung und Reichsbildungen - Europa 700 - 1200
Ludwigs des Deutschen und Karls des Kahlen relativ stabile Größen waren, die wechselnde Herrscher erlebten, führte der Umbruch von 887/88 auf dem Boden des einstigen Mittelreiches auchzu völligen Neubildungen. Eine solche war das Königreich, das der Welfe Rudolf I. (888–912), Großneffe der Kaiserin Judith und Machthaber im Dukat um den Genfer See, Anfang 888 von Saint-Maurice d’Agaune aus proklamierte. Als sein eigentliches Ziel, die Herrschaft über Lotharingien, sogleich am Widerstand Arnolfs gescheitert war, konzentrierte er sich auf den Ausbau seiner Hoheit im Westalpenraum (von Besançon bis Basel), wo er ziemlich unangreifbar war und unter dem Namen (Hoch-)Burgund ein Kleinreich von immerhin fast 150jähriger Dauer etablieren konnte. Weiter südlich im Rhônegebiet, wo sich schon 879 Graf Boso von Vienne († 887), ein Schwager Karls des Kahlen und Schwiegersohn Kaiser Ludwigs II., aber eben doch kein Karolinger im Mannesstamm, zu einem von den übrigen Frankenherrschern heftig befehdeten regionalen Königtum aufgeschwungen hatte, förderte Arnolf, schon um den ungeliebten Welfen Rudolf in Schach zu halten, Bosos Sohn Ludwig, der 890 in Valence von den provenzalischen Großen zum König erhoben wurde. Sein (nieder-)burgundisches Reich (von Lyon bis zur Côte d’Azur) machte Ludwig (der Blinde, 890–928) ab 900 zur Ausgangsbasis einer aktiven Italien- und Kaiserpolitik, die 905 abrupt endete, als er geblendet über die Alpen zurückkehrte und bis zu seinem Tode (928) zu einem Schattendasein verurteilt war.
Nord- und Mittelitalien schließlich, das schon unter den Karolingern zumeist gesonderte Teilherrscher gehabt hatte, wurde seit 887/88 zum Schauplatz langwieriger Machtkämpfe, bei denen außer dem Königtum stets auch die Kaiserkrone eine Rolle spielte. Am schnellsten handelte Berengar I. (888–924), Markgraf von Friaul und Enkel Ludwigs des Frommen (in weiblicher Linie), der sich Anfang 888 in Pavia zum König ausrufen und krönen ließ und die Anerkennung Arnolfs fand. Doch schon ein Jahr später erlitt er eine schwere Niederlage durch den aus Westfranken heimgekehrten Wido von Spoleto, der sich, ebenfalls in Pavia zum «König Italiens» erhoben (889–894), den Weg nach Rom bahnte, während Berengar in den Nordosten Italiens mit Verona abgedrängt wurde. Da Arnolfs Eingreifen, womit er sich Berengar zum Feind machte,895/96 eine flüchtige Episode blieb, war dieser Ende 896 genötigt, mit Widos Sohn, Kaiser Lambert, zu einem Arrangement zu kommen, das in der Anerkennung von dessen Oberhoheit bei Respektierung des eigenen Königtums jenseits von Adda und Po bestand. Auch das war nur von kurzer Dauer, denn Ende 898 spielte der Unfalltod Lamberts Berengar das alleinige Königtum Italiens in die Hände. Der Zeitpunkt war denkbar unglücklich, denn 899/900 kam es zu einem verheerenden Einbruch der Ungarn, die weite Teile der Poebene ein ganzes Jahr lang verwüsteten. Bei ihrer Bekämpfung machte König Berengar in den Augen der Großen eine so schlechte Figur, daß sie sich gleich wieder nach einem neuen Herrscher umsahen. Damit schlug die Stunde des erwähnten Ludwig von der Provence, der zwischen 900 und 905 zweimal in Italien erschien, aber gegen Berengar doch den kürzeren zog. Erst danach legte sich für längere Zeit jeder Widerstand gegen ihn, was Berengar dadurch beförderte, daß er auf die Hoheit über die Toscana und erst recht Rom praktisch verzichtete, auch nachdem er 915 zum Kaiser gekrönt war.
V) Europa um 1200
/e/ uropa blieb auch um 1200 vorwiegend ein abstrakter Gegenstand geographischen Wissens, auf vielen mittelalterlichen Weltkarten abgebildet als ein Viertel der Erde, war aber in seiner Gesamtheit kaum eine konkret erfahrene Wirklichkeit, die bei den Bewohnern ein Wir-Gefühl geweckt hätte. Wenn im 12./13. Jh. außerhalb kosmographischer oder mythologischer Kontexte der Begriff Europa zur Sprache kam (was selten genug geschah), handelte es sich durchweg um eigentlich ungenaue Gleichsetzungen mit der lateinischen Christenheit, die weit häufiger
Christianitas
oder
ecclesia
genannt und im Kontrast zum «Heidentum» anderer Erdteile einschließlich des Islam gesehen wurde. Die politische Vorstellung von einem Miteinander der christlichen Herrscher Europas findet sich so wenig wie gesonderte kartographische Darstellungen des Kontinents.
Gleichwohl ist unverkennbar, daß sich bis zur Mitte des Mittelalters eine Anzahl von verbindenden Merkmalen zwar nicht buchstäblich
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