Christine Feehan - Karpatianer 13 - Dunkler Ruf des Schicksals
Gartentore hingen schief in den Angeln.
Destiny setzte mühelos über einen niedrigen Zaun und ging zur Hinterseite eines der Häuser. Pappkartons und zusammengeschnürte Zeitungen stapelten sich zu wahren Türmen und nahmen den meisten Platz in dem winzigen Garten ein. Sie sollte Weggehen, die Stadt verlassen und sich so weit wie möglich von Nicolae entfernen. Aber schon konzentrierte sich ihr ganzes Sein wieder auf ihn, und sie brauchte seine Nähe.
Waren es wirklich die rituellen Worte, die sie aneinander gebunden hatten, oder hatte ihr Verlangen, ihm nahe zu sein, schon vor langer Zeit begonnen? Bei jedem Erwachen hatte sie ihn gesucht. Seine Ruhe, seine Anwesenheit in dieser Welt waren ihr einziger Halt gewesen. Jahrelang hatte sie ihn benutzt, indem sie ihn gezwungen hatte, an ihren körperlichen und seelischen Schmerzen teilzuhaben. Sie hatte ihn zu einem Leben im Schatten verurteilt, zu einer unablässigen Suche nach ihr. Sie hatte ihn mit ihrem Schweigen bestraft und ihn gleichzeitig an jedem Aspekt der Misshandlungen und Foltern des Vampirs teilhaben lassen.
Ich war bereits im Schatten, Destiny. Du hast mich ins Licht geholt.
Da war sie wieder: seine Stimme, seine wunderschöne Stimme, die sie ins Reich der Träume entführen konnte. Die Märchen erzählen und Hoffnung bringen konnte. Und die sie von jeder Schuld freisprechen konnte. Destiny blieb neben der morschen Hintertreppe stehen und senkte die Lider. All die Schuldgefühle, die ständig auf ihr lasteten - würde sie sich je von ihnen freimachen können?
Ein verzweifeltes Schluchzen riss sie aus ihrem eigenen Elend. Ein Kind sollte ein so herzzerreißendes Gefühl nie erfahren müssen. Destiny konnte die Schwingungen von Gewalt fühlen, die immer noch in der Luft hingen. Und sie roch Blut. Sie kauerte sich auf die Fersen und spähte unter die wackeligen Stufen. Der Junge konnte nicht älter als neun oder zehn sein. Er war furchtbar dünn, und seine Sachen waren viel zu weit, obwohl seine mageren Handgelenke und Knöchel hervorschauten. Er trug keine Socken, und seine Schuhe hatten Löcher. Seine Tränen zogen helle, verschmierte Bahnen in seinem schmutzigen Gesicht. Er rieb sich ständig die Augen, konnte aber die Schluchzer, die seinen jungen Körper erschütterten, nicht unterdrücken. Auf seiner Kleidung waren frische Blutflecke, doch sie konnte keine offenen Wunden an ihm entdecken.
»He, du da«, sagte sie mit ihrer sanftesten Stimme, um ihn nicht zu erschrecken. Diese leisen, silbrigen Töne hatte sie von Nicolae gelernt. Immer wieder lief alles auf Nicolae hinaus. »Ist da unten noch Platz für mich?« Der unterschwellige Druck in ihrer Stimme, der kleine »Schubs«, machte es dem Jungen leichter, ihre Anwesenheit zu akzeptieren.
Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet, und er sah völlig verängstigt aus, aber er rückte gehorsam ein Stück zur Seite, damit sie genug Platz hatte, sich zu ihm unter die Treppe zu zwängen. Destiny hockte sich im Schneidersitz auf den Boden und wärmte das Kind mit der Nähe ihres Körpers.
»Hast du eine schlimme Nacht?«
Der Junge nickte stumm. Destiny konnte die Narben auf seinem Handrücken und den Unterarmen sehen. Sie erkannte sofort, was sie vor sich hatte: Wundmale der Verteidigung. »Mein Name ist Destiny. Und wie heißt du?« Sie streckte ihre Arme aus, sodass er ihre Narben sehen konnte. Dieselben Male der Abwehr. »Schau. Genau wie bei dir.«
Er beugte sich in der Dunkelheit vor, um ihre Narben zu begutachten. »Du hast mehr.«
»Aber sie sind verheilt«, erwiderte sie nüchtern, »und sie tun nicht mehr weh. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne, also physisch, außen. Was ist mit deinen?«
»Tun auch nicht mehr weh.« Er sah sie an. »Na ja, außen vielleicht ein bisschen. Ich heiße Sam.«
»Aber innen tun sie ganz schön weh, stimmt’s, Sam?« Sie strich mit ihrer Daumenkuppe über die schlimmsten Narben und hinterließ ein Gefühl wie von linderndem Balsam. »Erzähl mir was darüber. Das ist nicht heute Abend passiert. Erzähl mir, was los ist.«
Er schüttelte den Kopf, weil ihn der Kodex der Straße zum Schweigen verpflichtete, aber dem sanften Druck ihrer Stimme hatte er nichts entgegenzusetzen. Seine Unterlippe bebte, doch er straffte die schmalen Schultern. »Ich hab das Geschirr nicht abgewaschen. Ich wusste, dass er sauer auf sie sein würde, wenn ich nicht abwasche, aber Tommy wollte mit mir Basketball spielen. Die anderen haben auch alle gespielt, und ich wollte nur
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