Christmasland (German Edition)
zu. Sie spürte Petes besorgten Blick auf sich ruhen und war ihm dankbar für sein Mitgefühl. Trotz seines Körpergeruchs und der brüsken Art war er ein freundlicher Mann, der sich um ein kleines Mädchen Sorgen machte, das ganz allein in Hampton Beach unterwegs war und irgendwie krank aussah. Aber sie wagte es nicht, ihm noch mehr zu erzählen. Ihre Schläfen und die Oberlippe waren von einem kalten Schweißfilm überzogen, und sie musste sich sehr zusammennehmen, um das Zittern ihrer Knie zu unterdrücken. Hinter ihrem linken Auge war wieder das Pochen zu spüren. Stärker diesmal. Der Gedanke, dass sie sich den Besuch im Terry’s nur einbildete und in Wahrheit bloß besonders lebhaft träumte, drohte ihr immer wieder zu entgleiten. So als versuchte sie, einen glitschigen Frosch festzuhalten.
V ic ging hinaus und lief schnell über den heißen Beton an den parkenden Motorrädern vorbei. Sie öffnete die Tür in dem hohen Bretterzaun und betrat die Gasse hinter Terry’s Primo Subs.
Die Brücke war immer noch da. Ihre Außenmauern drückten gegen die Gebäude zu beiden Seiten. Es tat weh, sie direkt anzuschauen. V ic spürte den Schmerz in ihrem linken Auge.
Ein Koch oder Tellerwäscher – einer der Küchenarbeiter jedenfalls – stand in der Gasse neben dem Müllcontainer. Er trug eine Schürze, die mit Bratfett und Blut verschmiert war und die man sich besser nicht so genau ansah, wenn man noch mal im Terry’s essen wollte. Er war ein untersetzter Mann mit stoppeligem Kinn und von Adern durchzogenen, tätowierten Unterarmen, und er starrte die Brücke mit einer Mischung aus Empörung und Furcht an.
»Was zum Teufel?«, sagte der Mann. V erwirrt sah er zu V ic hinüber. »Siehst du das, Mädchen? Ich meine … was zum Teufel ist das?«
»Meine Brücke«, sagte V ic. »Keine Sorge. Ich nehme sie wieder mit.« Ihr war selbst nicht ganz klar, was sie damit meinte.
Sie ergriff ihr Fahrrad am Lenker, drehte es um und schob es auf die Brücke zu. Dann holte sie Schwung und stieg auf.
Das V orderrad ratterte über die Holzbretter, und sie tauchte in die zischende Dunkelheit ein.
Wieder war das Geräusch zu vernehmen, dieses Knacken und Tosen, während ihr Raleigh sie über die Brücke trug. Auf dem Hinweg hatte sie geglaubt, den Fluss unter sich zu hören, aber sie hatte sich geirrt. In den Wänden befanden sich lange Risse, hinter denen eine weiße Helligkeit flackerte, als würde auf der anderen Seite der Wand der größte Fernseher der Welt auf einem toten Kanal laufen. Ein Sturm blies gegen die schiefe, baufällige Brücke, ein heftiger Lichtsturm. Sie spürte, wie die Brücke leise schwankte.
Sie schloss die Augen, richtete sich auf und trat noch schneller in die Pedale. Sie versuchte es wieder mit ihrem gebetsartigen Singsang – fast da, fast da –, aber die Worte ließen sie im Stich. Sie hörte nur ihr Atmen und das wütende, dröhnende Tosen, den endlosen Wasserfall aus Geräuschen, der immer lauter wurde, zu einer unglaublichen Intensität anschwoll, bis sie laut rufen wollte, aufhören, hör endlich auf! Sie holte Luft, um zu schreien, und dann schoss sie plötzlich aus der Brücke und befand sich wieder in
Haverhill, Massachusetts
M it einem leisen, elektrischen Ploppen erstarb das Geräusch. Sie spürte es in ihrem Kopf, in ihrer linken Schläfe, eine kleine, aber deutlich wahrnehmbare Explosion.
Noch bevor sie die Augen öffnete, wusste sie, dass sie wieder zu Hause war. Nicht in ihrem Elternhaus, aber zumindest in ihrem Wald. Sie erkannte ihn am Geruch der Kiefern und der kühlen, sauberen Luft, die sie mit dem Merrimack River verband. In der Ferne hörte sie den Fluss, ein sanftes, beruhigendes Rauschen, das überhaupt nicht mit dem Tosen in der Brücke zu vergleichen war.
Sie öffnete die Augen, hob den Kopf und schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht. Das Licht der untergehenden Sonne blitzte in unregelmäßigen Abständen durch die Blätter über ihr. Sie fuhr langsamer, bremste ab und setzte einen Fuß auf den Boden.
V ic drehte den Kopf, um einen letzten Blick durch die Brücke auf Hampton Beach zu werfen. Ob sie auf der anderen Seite wohl den Koch in seiner schmutzigen Schürze würde sehen können?
Aber sie konnte ihn nicht sehen, weil die Shorter Way Bridge verschwunden war. Ein Schutzgeländer befand sich an der Stelle, wo der Brückeneingang gewesen war. Dahinter fiel der Boden zu einem steilen, unkrautbewachsenen Hang ab, der am Bett des tiefblauen Flusses endete.
Drei
Weitere Kostenlose Bücher