Christmasland (German Edition)
auch nur deshalb, weil sie ihn wiedererkannte. Aber dann stand sie blinzelnd vor ihm und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. In Petes Rücken surrte ein V entilator, der ihr seinen feuchten Körpergeruch ins Gesicht wehte. Worauf sie sich nicht unbedingt besser fühlte.
Am liebsten hätte sie geweint, aus einem ungewohnten Gefühl der Hil fl osigkeit heraus. Sie befand sich in New Hampshire, wo sie gar nicht hingehörte. Die Shorter Way Bridge steckte in der Gasse hinter dem Haus fest, und irgendwie war das ihre Schuld. Ihre Eltern stritten sich und hatten keine Ahnung, wo sie war. All das und noch mehr musste sie irgendjemand erzählen. Sie musste zu Hause anrufen. Die Polizei anrufen. Jemand musste sich die Brücke in der Gasse ansehen. Ihre Gedanken wirbelten so wild durcheinander, dass ihr ganz schwindelig wurde. Das Innere ihres Kopfes war ein unangenehmer Ort, ein finsterer Tunnel voller seltsamer Geräusche und umherflatternder Fledermäuse.
Der große Mann erlöste sie jedoch von der schwierigen Entscheidung, wo sie anfangen sollte. Bei ihrem Anblick runzelte er die Stirn. »Ach, da bist du ja. Ich habe mich schon gefragt, ob ich euch noch mal wiedersehen werde. Ihr seid zurückgekommen, um ihn zu holen, oder?«
V ic starrte ihn verständnislos an. »Um was zu holen?«
»Den Armreif. Mit dem Schmetterling.«
Er drehte an einem Schlüssel, und mit einem Klingeln öffnete sich die Kasse. Im hintersten Fach lag der Armreif ihrer Mutter.
Als V ic ihn sah, zitterten ihr erneut die Knie, und sie stieß ein Seufzen aus. Zum ersten Mal, seit sie die Shorter Way Bridge überquert und sich unerklärlicherweise in Hampton Beach wiedergefunden hatte, dämmerte ihr, was passiert sein könnte.
In ihrer Fantasie hatte sie nach dem Armreif ihrer Mutter gesucht, und irgendwie hatte sie ihn gefunden. Sie war gar nicht mit dem Fahrrad losgefahren. Wahrscheinlich hatten sich ihre Eltern auch nicht gestritten. Für die Brücke gab es eine einfache Erklärung. V ic war sonnenverbrannt und erschöpft nach Hause gekommen, den Bauch voller Milchshake, und auf ihrem Bett eingeschlafen. Jetzt träumte sie also. Demnach wäre es wohl das Beste, den Armreif ihrer Mutter an sich zu nehmen und über die Brücke zurückzufahren. In diesem Moment würde sie dann vermutlich aufwachen.
Wieder spürte sie einen pochenden Schmerz hinter ihrem linken Auge. Beginnendes Kopfweh machte sich dort bemerkbar. Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal im Traum Kopfweh gehabt zu haben.
»Danke«, sagte das Gör, als Pete ihr den Armreif über die Theke reichte. »Meine Mutter hat sich deswegen schon große Sorgen gemacht. Er ist ziemlich wertvoll.«
»Tatsächlich?« Pete steckte einen kleinen Finger in ein Ohr und drehte ihn hin und her. »Du meinst wahrscheinlich als Erinnerungsstück, oder?«
»Nein. Ich meine, ja. Er hat ihrer Großmutter gehört, meiner Urgroßmutter. Aber er ist auch so sehr wertvoll.«
»Ah ja.«
»Das ist eine Antiquität«, sagte das Gör, auch wenn sie sich nicht sicher war, warum sie Pete unbedingt vom Wert des Armreifs überzeugen wollte.
»Eine Antiquität ist es nur, wenn es etwas wert ist. Hat es keinen Wert, dann ist es bloß ein altes Ding.«
»Da sind Diamanten drauf«, sagte das Gör. »Er besteht aus Gold und Diamanten.«
Pete lachte kurz und verächtlich.
»Wirklich!«, sagte sie.
»Ach was«, sagte Pete. »Das ist doch bloß Modeschmuck. Diese Dinger, die aussehen wie Diamanten? Das sind Zirkoniasteine. Und siehst du die Stellen, wo der Reif innen silbern wird? Gold reibt sich nicht ab. Was gut ist, bleibt auch gut, egal wie alt es ist.« Mitfühlend runzelte er die Stirn. »Alles in Ordnung? Du siehst ein bisschen blass aus.«
»Mir geht’s gut«, erwiderte sie. »War bloß zu viel Sonne heute.« Sie kam sich sehr erwachsen vor, als sie das sagte.
Allerdings ging es ihr wirklich nicht gut. Ihr war schwindelig, und ihre Beine zitterten. Sie musste dringend hier raus, der Geruch von Petes Schweiß, den Zwiebelringen und dem siedenden Frittieröl machte sie ganz duselig. Sie wünschte sich, dass dieser Traum endlich vorbei war.
»Möchtest du was Kaltes zu trinken?«, fragte Pete.
»Danke, aber ich habe einen Milchshake getrunken, als wir vorhin hier Mittag gegessen haben.«
»Wenn du einen Milchshake getrunken hast, dann bestimmt nicht hier«, sagte Pete. » V ielleicht bei McDonald’s. Wir haben hier nur Frappés.«
»Ich muss los«, sagte sie, drehte sich um und ging auf die Tür
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