Christmasland (German Edition)
Selbstermächtigungsfantasie. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, Opfer zu sein, deshalb habe ich mir das alles ausgedacht, um mich zum Helden der Geschichte zu machen. Und dazu gehören auch Erinnerungen an Dinge, die nie passiert sind.«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Motorradjacke auf den Knien, und atmete auf. Na also. Das war doch gar nicht so schlimm gewesen. Er begriff jetzt, was sie ihm zu sagen versuchte: Sie hatte etwas Furchtbares erlebt, das sie eine Zeit lang um den V erstand gebracht hatte. V orübergehend hatte sie sich – nur allzu verständlich – in eine Fantasiewelt geflüchtet, und nun war sie bereit, sich wieder der Realität zu stellen.
»Gut«, fügte Lou wie einen Nachsatz hinzu. »Aber irgendwie sind wir völlig vom Thema abgekommen. Was hat das alles mit der Frau zu tun, die gestern bei euch war?«
»Das war Maggie Leigh«, sagte V ic.
»Maggie Leigh?«
»Die Bibliothekarin. Das Mädchen, das ich in Iowa kennengelernt habe, als ich dreizehn war. Sie ist nach Haverhill gekommen, um mir mitzuteilen, dass Charlie Manx von den Toten auferstanden und auf der Suche nach mir ist.«
*
Der Ausdruck in Lous großem, rundem Gesicht mit den Bartstoppeln war so überzogen, dass V ic beinahe lachen musste. Seine Augen weiteten sich nicht einfach, sie schienen wie bei einer Comicfigur, die gerade aus einer Flasche mit der Aufschrift XXX getrunken hatte, förmlich aus den Höhlen zu quellen. Fehlte bloß noch, dass Rauch aus den Ohren kam.
V ic hatte immer gern sein Gesicht berührt und konnte sich auch jetzt nur schwer zurückhalten. Es war verlockend wie ein Gummiball für ein Kind.
Als sie ihn das erste Mal geküsst hatte, war sie noch ein Kind gewesen. Und er genauso.
»Mann, was soll das denn jetzt heißen? Du hast doch gesagt, du hättest dir die Bibliothekarin bloß ausgedacht. So wie deine imaginäre überdachte Brücke.«
»Jep. So habe ich es mir in der Klinik erklärt. All diese Erinnerungen sind reine Einbildung. Eine komplexe Geschichte, die ich mir ausgedacht habe, um mich vor der Wahrheit zu schützen.«
»Aber … die Frau kann keine Einbildung gewesen sein«, sagte Lou. »Sie war da. Wayne hat sie gesehen. Er hat die Mappe mit den Papieren gefunden. Dadurch hat er von Charlie Manx erfahren. Auf einmal machte sich in seinem großen, ausdrucksstarken Gesicht Bestürzung breit. » V erdammt. V on der Mappe hatte ich dir ja eigentlich gar nichts erzählen sollen.«
»Wayne hat sich die Mappe angeschaut? Mist. Ich dachte, sie hätte sie wieder mitgenommen. Ich wollte nicht, dass Wayne sie sieht.«
» V errat ihm bitte nicht, dass ich es dir gesagt habe.« Lou ballte die Faust und schlug sich auf eines seiner Elefantenknie. »Ich kann einfach nichts für mich behalten.«
»Du bist so aufrichtig, Lou. Das ist einer der Gründe, warum ich dich liebe.«
Er hob den Kopf und sah sie verwundert an.
»Das tue ich tatsächlich, weißt du«, sagte sie. »Es ist nicht deine Schuld, dass ich alles vermasselt habe. Dass ich so eine kolossale V ersagerin bin.«
Lou senkte den Kopf und dachte darüber nach.
»Willst du mir nicht sagen, dass alles gar nicht so schlimm ist?«, fragte sie.
»Ähm. Nein. Ich musste nur daran denken, dass die meisten Männer hübsche Frauen mögen, die Fehler machen. Weil dann nämlich immer die Möglichkeit besteht, dass sie mal einen mit ihnen machen.«
Sie lächelte, streckte die Hand aus und legte sie auf seine. »Ich habe eine Menge Fehler gemacht, Louis Carmody, aber du gehörst nicht dazu. O Lou. Ich habe es so satt, in meinem Kopf gefangen zu sein. Meine Fehltritte sind schlimm und die Entschuldigungen noch schlimmer. Das haben beide V ersionen meines Lebens irgendwie gemeinsam. In der einen bin ich eine wandelnde Katastrophe, weil meine Mutter mich nicht oft genug umarmt und mein V ater mir nicht gezeigt hat, wie man Drachen steigen lässt, oder so. Und in der anderen bin ich eine V ersagerin …«
»Sch. Lass gut sein.«
»… und habe euer beider Leben völlig ruiniert, deines und Waynes …«
»Hör auf, dich selbst zu zerfleischen.«
»… weil mich diese ganzen Ausflüge über die Shorter Way Bridge irgendwie um den V erstand gebracht haben. Weil die Brücke von Anfang an nicht besonders stabil war und sie mit jedem Ausflug ein bisschen wackliger wurde. Es ist zwar eine Brücke, aber zugleich auch das Innere meines Kopfes. Ich erwarte nicht, dass das irgendeinen Sinn ergibt. Ich verstehe es selbst nicht ganz. Da drinnen
Weitere Kostenlose Bücher