Christmasland (German Edition)
Lou nicht hatte hören wollen, wie der alte Scheißkerl V ic missbraucht und zwei Tage lang in den Kofferraum seines Wagens gesperrt hatte. V on ernsten Unterhaltungen bekam Lou Bauchschmerzen. Er mochte lieber lockere Gespräche, zum Beispiel über Green Lantern.
»Ich dachte mir immer, dass du von selber darauf zu sprechen kommen würdest, wenn dir danach ist«, sagte er.
»Ich habe nie darüber geredet, weil ich nicht weiß, was passiert ist.«
»Du meinst, du erinnerst dich nicht. Schon klar. Das verstehe ich. Ich würde so was auch verdrängen.«
»Nein«, sagte sie. »Ich meine, ich weiß es wirklich nicht. Ich erinnere mich daran, aber ich weiß es nicht.«
»Aber … wenn du dich erinnerst, dann musst du doch auch wissen, was passiert ist. Ich meine, ist erinnern und wissen nicht dasselbe?«
»Nicht, wenn man zwei verschiedene Erinnerungen hat. In meinem Kopf existieren zwei V arianten von dem, was passiert ist, und beide könnten die Wahrheit sein. Willst du sie hören?«
Eigentlich nicht.
Er nickte trotzdem.
»In einer V ariante, derjenigen, die ich der Staatsanwaltschaft erzählt habe, habe ich mich mit meiner Mutter gestritten«, sagte sie. »Ich bin weggelaufen und kam spät nachts an einem Bahnhof an. Ich habe meinen V ater angerufen und gefragt, ob ich zu ihm kommen könne, und er hat mich zurück nach Hause geschickt. Als ich aufgelegt hatte, spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz im Hintern. Ich drehte mich um, und da wurde mir schwindlig, und ich fiel Charlie Manx in die Arme. Er hat mich in den Kofferraum seines Wagens gelegt und ist mit mir durch den ganzen Bundesstaat gefahren. Er hat mich nur herausgeholt, um mich erneut unter Drogen zu setzen. Mir war vage bewusst, dass er noch ein anderes Kind bei sich hatte, einen kleinen Jungen, aber er hielt uns meist voneinander getrennt. Als wir nach Colorado kamen, hat er mich im Kofferraum zurückgelassen, um irgendetwas mit dem Jungen zu machen. Ich habe den Kofferraum aufgebrochen und mich befreit. Dann habe ich sein Haus in Brand gesteckt, um ihn abzulenken, und bin zum Highway gelaufen. Ich bin durch diesen furchtbaren Wald gerannt, mit dem Weihnachtsschmuck an den Bäumen. Und dann bin ich dir begegnet, Lou. Den Rest der Geschichte kennst du. Das ist eine V ersion der Ereignisse, an die ich mich erinnere. Willst du auch noch die andere hören?«
Er war sich nicht ganz sicher, ob er das wirklich wollte, aber er nickte dennoch.
»In einer anderen V ersion meines Lebens hatte ich ein Fahrrad. Mein V ater hatte es mir geschenkt, als ich ein kleines Mädchen war. Mithilfe dieses Fahrrades konnte ich verlorene Dinge finden. Ich fuhr damit über eine imaginäre überdachte Brücke, die mich immer genau an den richtigen Ort brachte. Einmal zum Beispiel, als meine Mutter einen Armreif verloren hatte, bin ich mit dem Fahrrad über die Brücke gefahren und kam in New Hampshire heraus, vierundsechzig Kilometer von meinem Zuhause entfernt. Der Armreif befand sich dort in einem Restaurant namens Terry’s Primo Subs. Kannst du mir so weit folgen?«
»Imaginäre Brücke, Fahrrad mit Superkräften. Alles klar.«
»Im Lauf der Jahre benutzte ich mein Fahrrad und die Brücke, um alle möglichen Dinge zu finden. Stofftiere oder Fotos, die verloren gegangen waren. Solche Sachen. Ich bin nicht oft auf diese Suchaktionen gegangen. Nur ein- oder zweimal im Jahr. Und als ich älter wurde, sogar noch seltener. Ich bekam immer mehr Angst davor, weil ich wusste, dass das eigentlich unmöglich war, dass die Welt so nicht funktionierte. Anfangs hielt ich es lediglich für Einbildung. Aber je älter ich wurde, desto verrückter erschien es mir. Ich begann, mich davor zu fürchten.«
»Ich bin überrascht, dass du deine besonderen Fähigkeiten nicht dazu benutzt hast, jemand zu finden, der dir sagt, dass mit dir alles in Ordnung ist«, sagte Lou.
Ihre Augen weiteten sich erstaunt, und Lou wurde klar, dass sie genau das getan hatte.
»Woher wusstest du …«, fing sie an.
»Ich habe eine Menge Comics gelesen. Das ist der nächste logische Schritt«, sagte Lou. »Nach der Entdeckung des magischen Rings folgt das Gespräch mit den Wächtern des Universums. So läuft das eben. Also, wer war es?«
»Die Brücke brachte mich zu einer Bibliothekarin in Iowa.«
»Natürlich eine Bibliothekarin. Das hätte ich mir denken können.«
»Dieses Mädchen – sie war kaum älter als ich – hatte ebenfalls eine besondere Fähigkeit. Mithilfe von Scrabble-Steinen
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