Christmasland (German Edition)
war anders. In New Hampshire war der Himmel klar und blau gewesen. Hier war es viel heißer und drückender, und Wolkenberge türmten sich am Horizont auf. Sie hatte das Gefühl, ein Gewitter kündige sich an, und tatsächlich war in diesem Moment in der Ferne ein leises Grollen zu hören. Wahrscheinlich würde es bald anfangen zu schütten.
Sie betrachtete erneut die Kirche. Im Betonfundament befanden sich ein paar Türen, die zu einem Keller hinabzuführen schienen und mit einer schweren Kette und einem glänzenden Messingschloss gesichert waren.
In der Nähe der Bäume erhob sich eine Art Schuppen mit weißen Wänden und einem mit blauen Schindeln gedeckten Dach. Die Schindeln waren mit Moos überwuchert, und auf dem Dach wuchsen Unkraut und Löwenzahn. An der V orderseite befand sich eine Tür, die breit genug war, dass ein Auto hindurchgepasst hätte, und daneben eine kleinere Tür mit einem Fenster. Innen am Glas klebte ein Blatt Papier.
Er ist dort drin, dachte V ic und schluckte trocken.
Es war wie damals in Colorado. Der Wraith stand in diesem Schuppen, und Wayne und Manx saßen darin und warteten auf den Abend.
Der Wind frischte auf und rauschte in den Blättern. Irgendwo hinter V ic war noch ein anderes Geräusch zu hören, ein metallisches Surren. Sie blickte die Straße hinunter. Das nächste Gebäude war ein kleines, erdbeerrosa gestrichenes Haus mit weißen Zierleisten – ein Hostess-Küchlein mit Kokosverzierung. Auf dem Rasen vor dem Haus befanden sich zahllose Windrädchen, die sich wie wild drehten.
Ein untersetzter, hässlicher Rentner stand mit einer Heckenschere in der Einfahrt und musterte sie argwöhnisch. Wenn er nicht gleich vor dem Gewitter ins Haus flüchtete, würde er vermutlich die Polizei rufen.
Sie fuhr das Motorrad zum Rand des Parkplatzes, schaltete es aus und ließ die Schlüssel stecken. Sie wollte bereit sein, falls sie schnell wieder losfahren musste. Erneut betrachtete sie den Schuppen neben der Ruine. Ihr Mund war so trocken wie die Blätter, die im Wind raschelten.
Sie spürte einen Druck hinter ihrem linken Auge, ein Gefühl, an das sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte.
V ic ließ das Motorrad stehen und näherte sich auf plötzlich unsicheren Beinen dem Schuppen. Auf halbem Wege blieb sie stehen und hob einen Brocken Asphalt von der Größe eines Tellers auf. Die Luft erzitterte erneut von fernem Donnergrollen.
Sie wusste, dass es ein Fehler wäre, den Namen ihres Sohnes zu rufen, doch ihre Lippen formten das Wort trotzdem: Wayne, Wayne.
Ihr Puls hämmerte hinter ihren Augäpfeln, und die Welt schien unruhig zu flackern. Der überhitzte Wind roch nach Stahlspänen.
Als sie bis auf anderthalb Meter an die Tür heran war, konnte sie das handgeschriebene Schild an der Innenseite des Fensters lesen:
ZUTRITT NUR FÜR MITARBEITE R !
Mit dem Asphaltbrocken zerschmetterte sie das Glas. Dann riss sie das Schild ab. V ic handelte, ohne nachzudenken. Sie hatte diese Szene schon einmal durchlebt und wusste, was als Nächstes geschehen würde.
Möglicherweise würde sie Wayne tragen müssen, wenn mit ihm etwas nicht stimmte, so wie mit Brad McCauley. Und wenn er wie McCauley war – ein halber Ghul, ein eiskalter V ampir –, dann würde sie ihn heilen. Sie würde ihm die besten Ärzte besorgen. Sie würde ihn reparieren, so wie sie das Motorrad repariert hatte. Wayne war schließlich ihr Sohn. Dagegen kam Manx mit seinem Auto nicht an.
Sie schob die Hand durch das zerbrochene Fenster und tastete nach dem Türknauf und dem Riegel, obwohl sie sehen konnte, dass der Wraith nicht da war. Im Schuppen wäre Platz für ein Auto, aber es stand kein Auto darin. An den Wänden stapelten sich Düngersäcke.
»He, was machen Sie da?«, hörte sie hinter sich eine dünne Stimme schreien. »Ich rufe gleich die Polizei!«
V ic schob den Riegel zurück, stieß die Tür auf und schaute keuchend in den kühlen, leeren Schuppen.
»Ich sollte Sie und Ihre Freunde auf der Stelle wegen Einbruchs verhaften lassen!«, tönte es hinter ihr.
V ic hörte kaum hin. Aber selbst wenn – sie hätte die Stimme wahrscheinlich nicht erkannt. Sie klang rau und angespannt, als hätte der Mann, dem sie gehörte, vor Kurzem geweint.
Als sie sich umdrehte, sah sie sich dem untersetzten, hässlichen Rentner in dem FDNY -T-Shirt gegenüber, der vorhin mit der Heckenschere im Garten seines Hauses gestanden hatte. Die Schere hatte er immer noch in der Hand. Hinter der dicken Hornbrille wirkten seine
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