Christmasland (German Edition)
Letztes aufgehalten hatte.
Das rosafarbene Haus mit den grellroten Blumen im V orgarten stand etwas abseits der anderen Häuser, so einsam wie ein Hexenhäuschen aus dem Märchen – und in gewisser Weise war es genauso fantastisch. Das Gras davor war sorgsam gemäht. Der hässliche, kleine Mann brachte V ic zu einer Hintertür, die in eine Küche führte.
»Ich hätte gerne eine zweite Chance«, sagte er.
»Wofür?«
Offenbar brauchte er einen Moment, um darüber nachzudenken. »Um alles richtig zu machen. Ich hätte sie aufhalten können. Den Mann und Ihren Sohn.«
»Woher hätten Sie das wissen sollen?«, fragte V ic.
Er zuckte mit den Achseln. »Kommen Sie von weit her?«, fragte er in seiner dünnen, misstönenden Stimme.
»Ja, irgendwie schon«, sagte sie. »Aber eigentlich auch wieder nicht.«
»Ach so. V erstehe«, sagte er ohne den geringsten Sarkasmus in der Stimme.
Er hielt ihr die Fliegengittertür auf, und sie ging vor ihm in die Küche. Die klimatisierte Luft im Inneren war ein Segen, fast so gut wie ein Glas kühles Wasser mit Minze.
Die Küche sah aus wie die einer alten Frau, die gern Kekse und Lebkuchen backte. Im Haus roch es sogar ein wenig nach Lebkuchen. An den Wänden hingen kleine Tafeln mit kitschigen, gereimten Sprüchen darauf.
EIN GUTES MAHL
LOHNT MÜH UND QUAL.
Auf einem Stuhl sah V ic eine ramponierte grüne Stahlflasche stehen, die sie an die Sauerstoffflaschen erinnerte, die jede Woche zum Haus ihrer kranken Mutter geliefert worden waren. Wahrscheinlich hatte der Mann eine Frau, der es nicht gut ging.
»Sie dürfen gern mein Telefon benutzen«, sagte er mit lauter Stimme.
Draußen krachte ein Donnerschlag so heftig, dass die Wände erzitterten.
V ic ging um den Tisch herum zu einem alten schwarzen Telefon, das neben der offenen Kellertür an der Wand hing. Auf dem Tisch lag ein aufgeklappter Koffer, in dem sich ein Durcheinander aus Unterwäsche und T-Shirts, aber auch eine Wintermütze und Fausthandschuhe befanden. Ein paar Briefe waren vom Tisch gefallen, die sie jedoch erst bemerkte, als sie darauf trat. Sie machte rasch einen Schritt beiseite.
»Entschuldigung«, sagte sie.
»Kein Problem!«, sagte der Mann. »Die sind mir runtergefallen. Ich werde sie gleich wegräumen.« Er beugte sich vor und hob mit seinen großen, knubbligen Händen die Umschläge auf. »Bing, Bing, du dummes Ding. Leg die Sachen richtig hin!«
Es war ein merkwürdiges kleines Lied, und sie wünschte sich, er hätte es nicht gesungen. Es klang wie etwas, was jemand in einem Albtraum singen würde.
Sie wandte sich dem Telefon zu, einem großen, klobigen Gerät mit einer Wählscheibe. V ic wollte den Hörer abnehmen, lehnte dann jedoch den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Sie war müde, und ihr linkes Auge schmerzte furchtbar. Außerdem wusste sie nicht so recht, wen sie anrufen sollte. Sie wollte Tabitha Hutter von der niedergebrannten Kirche auf dem Hügel erzählen (Gott ist verbrannt, nur noch Teufel übrig), wo Manx und ihr Sohn die Nacht verbracht hatten. Sie wollte, dass Hutter herkam und mit dem alten Mann redete, der die beiden gesehen hatte, dem alten Mann namens Bing (Bing?). Aber sie wusste noch nicht einmal, wo sie sich genau befand. Wahrscheinlich sollte sie die Polizei erst anrufen, wenn sie das in Erfahrung gebracht hatte.
Bing. Irgendetwas an dem Namen beunruhigte sie.
»Wie lautete noch einmal Ihr Name?«, fragte sie. V ielleicht hatte sie sich ja verhört?
»Bing.«
»Wie die Suchmaschine?«, fragte sie.
»Genau. Aber ich benutze Google.«
Sie lachte, eher erschöpft als belustigt, und warf ihm einen schiefen Blick zu. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und nahm gerade etwas von einem Haken neben der Tür. Es sah aus wie ein formloser schwarzer Hut. Sie warf einen weiteren Blick auf die verbeulte grüne Gasflasche und stellte fest, dass darin kein Sauerstoff war. An der Seite stand: SEVOFLURAN, ENT ZÜNDLICH .
Sie wandte sich wieder dem Telefon zu. Sie nahm den Hörer ab, wusste aber immer noch nicht, wen sie anrufen sollte.
»Das ist witzig«, sagte sie. »Ich habe auch eine eigene Suchmaschine. Kann ich Ihnen eine etwas seltsame Frage stellen, Bing?«
»Natürlich«, sagte der Mann.
Ihre Finger strichen über die Wahlscheibe, ohne jedoch eine Nummer zu wählen.
Bing, Bing. Das klang weniger nach einem Namen als nach dem Geräusch, das ein kleiner Silberhammer erzeugte, der gegen eine Glasglocke schlug.
»Ich bin ein bisschen vergesslich, und mir ist
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