Christmasland (German Edition)
lächelte.
Route 3, New Hampshire
D ie Straße roch sauber, nach Tannen, Wasser und Wald.
V ic hatte erwartet, Sirenen zu hören, aber als sie in den linken Spiegel schaute, sah sie hinter sich nur leeren Asphalt. Und außer dem Dröhnen der Triumph war kein Geräusch zu vernehmen.
Hoch oben zog ein Passagierflugzeug über den Himmel, ein glänzender Lichtpfeil, der nach Westen zeigte.
Bei der nächsten Abzweigung verließ V ic die Seestraße, fuhr in die grünen Hügel, die den Lake Winnipesaukee umgaben, und wandte sich ebenfalls in westliche Richtung.
Wie es weitergehen sollte, war ihr nicht ganz klar, sie wusste nur, dass ihr wenig Zeit blieb, sich darüber Gedanken zu machen. Am V ortag hatte sie die Brücke gefunden, aber das schien schon wieder unwahrscheinlich lange her, genau wie ihre Kindheit.
Jetzt war es viel zu hell und sonnig, als dass so etwas Unwahrscheinliches geschehen könnte. An einem klaren Tag wie diesem folgte die Welt dem gewohnten Gang der Dinge. Hinter jeder Kurve ging die Straße weiter, und der Asphalt glänzte im Sonnenlicht.
V ic folgte den Serpentinen die Hügel hinauf, fort vom See. Ihre Hände waren feucht, und ihr Fuß, mit dem sie die Gangschaltung bediente, schmerzte. Sie fuhr immer schneller und schneller. Als könnte sie allein durch ihre Geschwindigkeit ein Loch ins Gewebe der Welt reißen.
Sie raste durch eine Stadt, die aus kaum mehr bestand als einem gelben Warnlicht auf einer Kreuzung. V ic würde so lange weiterfahren, bis der Tank leer war. Dann würde sie das Motorrad wahrscheinlich liegen lassen und weiterrennen, bis entweder die verdammte Shorter Way Bridge auftauchte oder ihre Beine nachgaben.
Aber die Brücke würde nicht auftauchen, weil es sie nämlich nicht gab. Die Shorter Way Bridge existierte nur in V ics Kopf. Mit jedem Kilometer, den sie zurücklegte, wurde ihr das immer klarer.
Es war genau so, wie ihre Psychiaterin gesagt hatte: Die Brücke war lediglich ein Fluchtweg, den V ic benutzte, um aus der Realität zu entkommen – die tröstende Selbstermächtigungsfantasie einer depressiven, traumatisierten Frau.
Sie fuhr noch schneller und nahm die Kurven mit fast hundert Sachen.
Sie raste so schnell dahin, dass sie sich einreden konnte, die Tränen in ihren Augen stammten vom Fahrtwind.
Die Triumph erklomm einen weiteren Hügel. In einer Kurve nahe der Hügelkuppe kam ihr ein Polizeiwagen entgegen. V ic befand sich nahe der Mittellinie der Straße und spürte, wie sie vom Sog des Wagens erfasst wurde. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, ins Schlingern zu geraten. Als sie aneinander vorbeifuhren, war der Fahrer nur eine Armlänge von ihr entfernt. Er hatte das Fenster heruntergelassen und den Ellbogen hinausgehängt – ein dicker Kerl mit Doppelkinn und einem Zahnstocher im Mund. V ic war ihm so nahe gekommen, dass sie ihm den Zahnstocher aus dem Mund hätte nehmen können.
Im nächsten Moment war er verschwunden, und sie hatte die Hügelkuppe hinter sich gelassen. Wahrscheinlich war der Polizeiwagen zu der Kreuzung mit dem gelben Warnlicht unterwegs gewesen, um ihr dort den Weg abzuschneiden. Er würde die schmale Straße bis zur Stadt hinunterfahren müssen, bevor er wenden und sie verfolgen könnte. Sie hatte eine ganze Minute V orsprung.
Das Motorrad fuhr um eine enge Kurve, und V ic erhaschte einen Blick auf die Paugus Bay, die dunkelblau und kalt unter ihr lag. Sie fragte sich, wann sie wohl das nächste Mal das Wasser sehen würde. Einen guten Teil ihres erwachsenen Lebens hatte sie in irgendwelchen Anstalten verbracht, hatte Anstaltsessen gegessen und sich an die Anstaltsregeln gehalten – und alles sprach dafür, dass es so weitergehen würde. Um acht Uhr dreißig Licht aus. Tabletten in einem Pappbecher. Edelstahltoilettensitze. Und Wasser sah man nur, wenn man spülte.
Die Straße stieg an und fiel dann wieder ab. Zur Linken tauchte ein kleiner Laden auf. Es war ein zweistöckiges Gebäude, das aus übereinandergestapelten Baumstämmen errichtet worden war. Über der Tür hing ein weißes Plastikschild mit der Aufschrift North Country V ideo. Hier draußen am See gab es noch Läden, wo man nicht nur DVD s, sondern auch V ideokassetten leihen konnte. V ic war schon fast an der V ideothek vorbeigefahren, als sie auf den Gedanken kam, sich auf dem Parkplatz zu verstecken. Er erstreckte sich bis zur Rückseite des Gebäudes, und unter den Tannen war es dort sehr dunkel.
Sie betätigte die Rückbremse und schwenkte bereits
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