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Christmasland (German Edition)

Christmasland (German Edition)

Titel: Christmasland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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eine beängstigende Dunkelheit.
    »Ja«, sagte V ic. »Okay. Du bist ziemlich freudianisch.«
    Aber das stimmte eigentlich gar nicht. Die Brücke war nicht die Muschi ihrer Mutter oder der Geburtskanal, und das Motorrad war auch nicht V ics symbolischer Schwanz oder eine Metapher für den Geschlechtsakt. Die Brücke führte zu verlorenen Dingen, sie stellte eine V erbindung her zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen.
    Unter den Deckenbalken war ein Rascheln zu hören. V ic sog die Luft ein und roch den beißenden Gestank der Fledermäuse.
    Wenn sie früher über die Brücke gefahren war, dann war das nicht die Fantasie einer emotional gestörten jungen Frau gewesen. Das hieße, Ursache und Wirkung zu vertauschen. V ielmehr hatte V ic deshalb eine Zeit lang das emotionale Gleichgewicht verloren, weil sie so oft über die Brücke gefahren war. Die Brücke war kein Symbol, sondern eine Manifestation ihrer Gedanken. Jedes Mal, wenn sie darübergefahren war, hatte sie im Inneren der Brücke für Unruhe gesorgt. Holzbohlen zersplitterten. Unrat wurde aufgewirbelt. Fledermäuse wachten auf und flatterten wild umher.
    Neben dem Eingang stand in grüner Sprühfarbe etwas an die Wand geschrieben:
    HAUS DES SCHLAFES ➛
    Sie legte den ersten Gang ein und fuhr mit dem Motorrad auf die Holzbohlen der Brücke. Sie fragte sich nicht, ob die Shorter Way wirklich da war oder ob es sich nur um eine Halluzination handelte. Die Frage hatte sich erledigt. Die Brücke existierte.
    Die Decke über ihr war mit Fledermäusen bedeckt, die die Köpfe unter die Flügel gesteckt hatten, um ihre Gesichter zu verbergen. Ihre Gesichter, die V ic so ähnlich sahen. Die Tiere bewegten sich unruhig.
    Die Reifen des Motorrades wummerten über die Bohlen – ka-bumm-bumm-bumm . Sie waren lose und löchrig, und manche fehlten ganz. Die Brücke schien unter dem Gewicht des Motorrades zu erzittern. Staub rieselte von den Dachbalken herab. Als V ic das letzte Mal über die Brücke gefahren war, hatte sie noch nicht so marode ausgesehen. Jetzt neigten sich die Wände wie ein Gang im Spaßparcours eines Jahrmarkts bedrohlich nach rechts.
    Sie fuhr an einer Lücke in der Wand vorbei, wo ein Brett fehlte. In dem schmalen Schlitz war ein Wirbeln leuchtender Partikel zu sehen. V ic hätte beinahe angehalten, um es sich genauer anzuschauen. Aber dann knackte unter dem V orderreifen des Motorrades ein Brett, laut wie ein Gewehrschuss, und V ic spürte, wie der Reifen ein paar Zentimeter in die Tiefe sackte. Sie gab Gas, und das Motorrad machte einen Satz nach vorn. Sie hörte ein weiteres Brett unter dem Hinterreifen brechen, während sie weiterfuhr.
    Das Gewicht der Maschine war beinahe zu viel für das alte Holz. Wenn sie anhielte, würden die morschen Bohlen womöglich durchbrechen, und sie würde hinabstürzen in das, was darunter lag – den Spalt zwischen Gedanken und Realität, zwischen V orstellung und Wirklichkeit.
    V ic konnte nicht erkennen, was sich am Ende des Tunnels befand. Sie sah nur ein helles Leuchten, das ihr in den Augen wehtat. Sie wandte den Kopf ab. An der Wand lehnte ihr altes blau-gelbes Fahrrad. Lenker und Speichen waren voller Spinnweben.
    Der V orderreifen des Motorrades holperte von den Holzbohlen der Brücke herunter auf Asphalt.
    V ic hielt an und setzte den Fuß ab. Mit einer Hand beschattete sie die Augen und blickte sich um.
    Sie war bei einer Ruine herausgekommen – einer Kirche, die bei einem Brand zerstört worden war. Die Fassade erinnerte an eine Filmkulisse: eine einzelne Wand, die den Eindruck erweckte, ein ganzes Gebäude befinde sich dahinter. Ein paar verkohlte Kirchenbänke standen inmitten von Trümmern, rußigen Glasscherben und verrosteten Bierdosen. Sonst war von der Kirche nichts übrig geblieben. Ein von der Sonne ausgeblichener, leerer Parkplatz erstreckte sich in alle Richtungen.
    V ic legte den ersten Gang ein und umkreiste mit der Triumph das Gebäude, das wohl das Haus des Schlafes sein musste. Dann hielt sie erneut an. Der Motor ratterte und hustete ungleichmäßig.
    V or der Kirche befand sich ein Schild mit beweglichen Lettern. V ic las, was dort geschrieben stand, und das Blut gefror ihr in den Adern:
    THE NEW AMERICAN
    FAITH TABERNACLE
    GOTT IST VERBRANNT
    NUR NOCH TEUFEL ÜBRIG
    Dahinter führte eine schmale Straße in eine verschlafene V orortsiedlung, die in der Nachmittagshitze vor sich hin schmorte. Sie fragte sich, wo sie sich befand. War sie immer noch in New Hampshire? Aber nein, das Licht

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