Christmasland (German Edition)
hier war und sah, wie er herumheulte.
Jetzt schnappte sich Lou die Papiertüte auf dem Stuhl und schlüpfte in seine Unterhose und Jeans.
Nachdem er mit V ic gesprochen hatte, war er umgekippt; die Welt war ölig und glatt geworden, und er hatte sich nicht mehr an ihr festhalten können – sie war ihm einfach zwischen den Fingern hindurchgeglitscht. Aber bis zu dem Augenblick hatte er V ic sehr genau zugehört. Er hatte an ihrer Stimme erkannt, dass sie ihm etwas sagen wollte. Ich muss noch eine Zwischenstation einlegen, und dann statte ich jemand einen Besuch ab, der mir ANFO besorgen kann. Mit dem richtigen ANFO kann ich Manx’ Welt von der Landkarte blasen.
Tabitha Hutter und die ganzen anderen Bullen hatten natürlich etwas anderes gehört: »Info« statt » ANFO «. Das war wie auf einem von V ics Search-Engine -Bildern gewesen, nur eben ein Bild aus Tönen, nicht aus Farben. Man bemerkte nicht, was man direkt vor Augen hatte, weil man nicht wusste, wonach man Ausschau halten sollte – oder, in diesem Fall, worauf man hören sollte. Aber Lou hatte schon immer gewusst, worauf er bei V ic achten musste.
Lou zog seinen Krankenhauskittel aus und sein Hemd an.
ANFO . Ihr V ater jagte Dinge in die Luft – Felsvorspünge, Baumstümpfe und alte Stützpfeiler. Er hatte V ic schon früh im Stich gelassen und Wayne nicht ein einziges Mal in den Armen gehalten. V ic hatte in einem Dutzend Jahren vielleicht ein Dutzend Mal mit ihm geredet. Seltener als Lou. Er hatte ihrem V ater immer mal wieder Bilder und V ideos von Wayne geschickt. Dem, was V ic erzählte, hatte Lou entnommen, dass ihr V ater seine Frau geschlagen und betrogen hatte. Dem, was V ic nicht erzählt hatte, entnahm er, dass sie ihn trotzdem vermisste und ihn mit einer Heftigkeit liebte, die ansonsten ihrem Sohn vorbehalten war.
Lou hatte V ics V ater nie persönlich kennengelernt, aber er wusste, wo er wohnte, und kannte seine Telefonnummer. Lou würde V ic dort treffen. Er war sich sicher, dass sie dort auftauchen würde, sonst hätte sie das ANFO nicht erwähnt.
Er schob den Kopf durch die V orhänge und schaute in den Gang hinaus.
Er sah einen Arzt und eine Schwester – Bilbo war noch nicht wieder aufgetaucht –, die beieinanderstanden und gemeinsam ein Klemmbrett anstarrten. Aber sie hatten ihm den Rücken zugewandt. Lou nahm seine Turnschuhe in die Hand, trat auf den Gang hinaus, wandte sich nach rechts und schlich durch eine Schwingtür in einen breiten weißen Korridor.
Er wählte die Richtung, die ihn am schnellsten von der Notaufnahme wegführte. Zwischendurch schlüpfte er in seine Turnschuhe.
Das Foyer war über zehn Meter hoch, und an der Decke hingen große rosafarbene Kristallplatten. Es sah aus wie die Festung der Einsamkeit. Wasser plätscherte in einem schwarzen Schieferspringbrunnen. Stimmen hallten durch den Raum. Der Geruch von Kaffee und Muffins wehte von einem Dunkin’ Donuts herüber, und vor Hunger krampfte sich ihm der Magen zusammen. Würde er jemals wieder einen zuckerbestreuten Donut mit Marmeladenfüllung essen können, ohne das Gefühl zu haben, sich den Lauf einer geladenen Pistole in den Mund zu stecken?
Ich will nicht ewig leben, dachte er. Aber bitte so lange, bis ich meinen Sohn wiederhabe.
Zwei Nonnen stiegen direkt vor der Drehtür aus einem Taxi. Das kam einer göttlichen Fügung verdammt nahe, fand Lou. Er hielt den beiden die Wagentür auf und ließ sich dann auf den Rücksitz fallen. Das Heck des Taxis sackte nach unten.
»Wohin fahren wir?«, wollte der Taxifahrer wissen.
Ins Gefängnis, dachte Lou, aber er sagte: »Zum Bahnhof.«
*
Bilbo Prince schaute zu, wie das Taxi davonzuckelte, wobei es eine blaue Abgaswolke ausstieß. In aller Ruhe notierte er sich die Nummer und das Kennzeichen. Dann schlenderte er einen Korridor entlang, stieg eine Treppe hinunter und verließ das Krankenhaus schließlich auf der anderen Seite des Gebäudes durch die Notaufnahme. Dort wartete der alte Bulle, Daltry, und rauchte.
»Er hat die Biege gemacht«, sagte Bilbo. »Wie Sie vermutet haben. Hat vorn ein Taxi genommen.«
»Haben Sie die Nummer?«
»Und das Kennzeichen«, sagte Bilbo und nannte ihm beides.
Daltry nickte und klappte sein Handy auf. Er drückte auf einen einzigen Knopf, hob es ans Ohr und drehte sich ein Stück von Bilbo weg.
»Er ist unterwegs«, brummte er. »Hutter hat gesagt, wir sollen ihn lediglich beobachten, also beobachten wir ihn. Schaut, wohin er fährt, und haltet euch bereit, falls
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