Christmasland (German Edition)
ihr jemals über die Lippen gekommen war. Das Blut rauschte ihr in den Ohren.
Das Motorrad krachte auf den matschigen Untergrund und pflügte auf den Fluss zu, und dann hörte V ic unter den Rädern Holz hämmern, und die Maschine drohte wegzurutschen. Sie öffnete die Augen und fand sich mitten auf der Shorter Way Bridge wieder, unter sich die vertrauten alten Bohlen. Am anderen Ende herrschte Finsternis. Das Rauschen in ihren Ohren war kein Blut, sondern Störgeräusche. Hinter den Rissen in den Wänden tobte der weiße Lichtsturm. Die schiefe Brücke schien unter dem Gewicht des Motorrads zu erbeben.
V ic raste an ihrem alten, von Spinnweben bedeckten Raleigh vorbei und wurde in eine feuchte, nach Kiefern duftende Dunkelheit hinausgeschleudert. Ihr Hinterrad grub sich in weiches Erdreich. V ic trat auf die Bremse, die nicht funktionierte, und packte reflexartig die V orderradbremse. Die Triumph brach zur Seite hin aus und geriet ins Rutschen. Der Boden, der mit einer federnden Moosschicht bedeckt war, warf unter den Rädern Falten wie ein schlecht verlegter Teppich.
V ic befand sich auf einer schmalen Böschung irgendwo mitten in einem Kiefernwald. Obwohl es eigentlich gar nicht regnete, tropfte Wasser von den Zweigen. Sie hielt das Motorrad in der V ertikalen, während es seitwärts über den Boden schlitterte, schaltete den Motor aus und trat den Ständer nach unten.
Dann blickte sie über die Brücke zurück. Am anderen Ende konnte sie die Bibliothek sehen und den bleichen, sommersprossigen Bullen, der an der Auffahrt zur Shorter Way Bridge stand. Er drehte den Kopf langsam hin und her und glotzte die Brücke an. Jeden Moment würde er sie betreten.
V ic schloss die Augen und senkte den Kopf. Ihr linkes Auge schmerzte, als hätte ihr jemand einen Stahlbolzen hineingerammt.
» V erschwinde!«, schrie sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Ein mächtiger Donnerschlag ertönte, als hätte jemand eine riesige Tür zugeworfen, und eine Schockwelle heißer Luft – Luft, die nach Ozon roch, wie eine Pfanne, die zu heiß geworden war – hätte sie fast vom Motorrad geworfen.
Sie blickte auf. Im ersten Moment konnte sie auf dem linken Auge fast nichts erkennen. Alles sah verschwommen aus, wie durch eine Fensterscheibe voller Schmutzwasser. Aber mit dem anderen Auge registrierte sie, dass sich die Brücke in Luft aufgelöst hatte. Zurückgeblieben waren riesige Kiefern, deren Stämme noch ganz feucht vom Regen waren.
V ic fragte sich, was wohl mit dem Polizisten am anderen Ende passiert war. Hatte er einen Fuß auf die Brücke gesetzt oder sogar den Kopf hineingesteckt? Hatte er sich über den Rand gebeugt, als die Brücke verschwand?
V or ihrem geistigen Auge sah sie, wie ein Kind einen Finger unter einen Papierschneider hielt und ihn langsam nach unten drückte.
»Daran lässt sich jetzt nichts ändern«, sagte sie und erschauderte.
V ic drehte sich um und betrachtete zum ersten Mal ihre Umgebung. Sie befand sich hinter einem einstöckigen Blockhaus. In einem der Fenster brannte Licht, und auf der anderen Seite der Hütte führte eine lange Kieseinfahrt zu einer Straße hinunter. Sie war noch nie hier gewesen, aber sie glaubte zu wissen, wo sie sich befand, und kurz darauf bestätigte sich ihre V ermutung. Während sie mit gespreizten Beinen über ihrem Motorrad stand, öffnete sich auf der Rückseite der Hütte eine Tür. Hinter dem Fliegengitter erschien ein kleiner, dünner Mann und blickte den Hang hinauf zu ihr. In einer Hand hatte er eine Tasse Kaffee. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, aber sie erkannte ihn sofort an seiner Gestalt, an seiner Kopfhaltung – und das, obwohl sie ihn seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Endlich, das Haus ihres V aters. Sie war den Bullen entwischt und hatte zu Chris McQueen zurückgefunden.
Dover, New Hampshire
E in lauter Knall, als wäre die größte Tür der Welt zugefallen. Ein elektronisches Jaulen. Ohrenbetäubende Störgeräusche.
Tabitha Hutter stieß einen Schrei aus und warf ihren Kopfhörer von sich.
Daltry, der rechts neben ihr saß, zuckte zusammen, behielt seinen jedoch noch einen Moment länger auf, das Gesicht schmerzverzerrt.
»Was war das denn?«, wollte Hutter von Cundy wissen.
Sie hatten sich zu fünft hinten in einen kleinen Lieferwagen gezwängt, auf dem der Schriftzug KING BOAR DELI prangte – was durchaus passte, schließlich waren sie hier wie Ölsardinen reingequetscht. Der Wagen stand neben einer CITGO -Tankstelle, rund
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