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Christmasland (German Edition)

Christmasland (German Edition)

Titel: Christmasland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Motorenöl. Das Kind, das neben ihm saß, wurde von der Strömung herausgesogen und fast bis in den Hafen von Boston gespült. Als die Leiche vier Tage später entdeckt wurde, hingen mehrere ertrunkene Fledermäuse in ihren Haaren.
    V ic beschleunigte – hundertzehn, hundertzwanzig. Fledermäuse schossen aus der Brücke in die Nacht hinaus, all ihre Gedanken, Erinnerungen, Träume und Schuldgefühle: wie sie Lous breite, entblößte Brust küsste, nachdem sie ihm das erste Mal das Hemd ausgezogen hatte; wie sie mit ihrem Zehngangfahrrad durch den grünen Schatten eines Augustnachmittags flitzte; wie sie sich die Fingerknöchel am V ergaser der Triumph aufschrammte, während sie versuchte, eine Schraube festzudrehen. Es tat gut, sie fliegen zu sehen, in der Freiheit, selbst von ihnen befreit zu sein, sie alle endlich ziehen zu lassen. Die Triumph erreichte den Ausgang und flog mit ihnen. Für einen Moment ritt sie auf der Nacht, segelte durch die Finsternis. Ihr Sohn hielt sie fest umklammert.
    Dann setzten die Reifen hart auf dem Boden auf. V ic wurde gegen den Lenker geschleudert, und aus dem Zwicken in ihrer Niere wurde ein qualvolles Reißen. Immer hübsch langsam, dachte sie und zog an der Bremse. Das V orderrad wackelte und zitterte, und die Triumph drohte sie jeden Moment abzuwerfen. Der Motor heulte auf, und die Maschine ruckelte über das zerfurchte Erdreich. V ic war zu der Lichtung zurückgekehrt, von wo aus Charlie Manx sie ins Christmasland geführt hatte. Gras peitschte über die Auspuffrohre.
    Immer langsamer und langsamer wurde sie. Das Motorrad stieß ein Keuchen aus und verstummte schließlich. Sie rollte noch ein Stück weiter, bis die Triumph am Waldrand stehen blieb und sie gefahrlos den Kopf drehen und zurückschauen konnte. Wayne wandte sich ebenfalls um, hielt V ic jedoch weiter fest umschlungen, als würden sie immer noch mit über hundert Sachen dahinrasen.
    Auf der anderen Seite der Lichtung sah sie die Shorter Way Bridge und einen Schwarm Fledermäuse, der in die sternenklare Nacht hinausflatterte. Dann kippte der Eingang der Brücke im Zeitlupentempo nach hinten und verschwand mit einem leisen Ploppen. Eine sanfte Druckwelle glitt über das hohe Gras.
    Der Junge und seine Mutter saßen auf dem stummen Motorrad und rissen die Augen auf. Fledermäuse fiepten leise in der Nacht. V ic fühlte sich vollkommen entspannt. In diesem Moment empfand sie nichts als Liebe, und das war genug.
    Sie trat den Kickstarter durch. Die Triumph seufzte, als täte es ihr leid. V ic versuchte es erneut, spürte, wie etwas in ihr riss, und spuckte Blut. Ein drittes Mal. Der Kickstarter bewegte sich kaum noch nach unten, und das Motorrad gab keinen Laut mehr von sich.
    »Was ist denn damit los, Mama?«, fragte Wayne mit seiner neuen, sanften Kleinjungenstimme.
    V ic ruckelte das Motorrad zwischen ihren Beinen vor und zurück. Es knarrte leise, aber sonst war nichts zu hören. Da ging ihr ein Licht auf, und sie lachte – ein trockenes, schwaches, aufrichtiges Lachen.
    »Das Benzin ist alle«, sagte sie.

IHR KINDERLEIN, KOMMET
    Oktober

Gunbarrel
    A m ersten Sonntag im Oktober erwachte Wayne vom Läuten der Kirchenglocken. Sein V ater saß am Rand des Bettes.
    »Was hast du geträumt?«, fragte sein neuer, fast schon dünner V ater.
    Wayne schüttelte den Kopf. »Weiß nicht. Ich kann mich nicht dran erinnern«, log er.
    »Ich dachte mir, vielleicht hast du von Mama geträumt«, sagte der neue Lou. »Du hast gelächelt.«
    »Dann wird es wohl was Lustiges gewesen sein.«
    »War es etwas Lustiges oder etwas Schönes?«, fragte der neue Lou und sah ihn neugierig an. »Das ist nicht immer das Gleiche.«
    »Ich weiß es nicht mehr«, erwiderte Wayne.
    Er wollte einfach nicht damit rausrücken, dass er von Brad McCauley, Marta Gregorski und den anderen Kindern im Christmasland geträumt hatte. Allerdings war es jetzt nicht mehr das Christmasland. Jetzt war es nur noch »das Weiße«, das zornige weiße Rauschen eines toten Kanals, in dem die Kinder umherrannten und ihre Spiele spielten. Das Spiel letzte Nacht hatte »Beiß den Kleinsten« geheißen. Wayne konnte immer noch das Blut schmecken. Er strich sich mit der Zunge über den klebrigen Gaumen. In seinem Traum hatte er mehr Zähne gehabt.
    »Ich fahr mit dem Abschleppwagen raus«, sagte Lou. »Muss noch was erledigen. Möchtest du mitkommen? Du musst nicht. Tabitha könnte bei dir bleiben.«
    »Ist sie da? Hat sie hier übernachtet?«
    »Nein, nein«, sagte Lou.

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