Christmasland (German Edition)
der Fahrer des Unfallwagens jemand andres gefunden, der ihn aus dem Graben zog. Das kam vor.
Wayne nahm ab.
Im Telefon zischte es: weißes Rauschen.
»Wayne«, sagte eine atemlose Stimme mit einem russischen Akzent. »Wann kommst du wieder zurück? Wann kommst du zurück und spielst mit uns?«
Wayne brachte keine Antwort heraus – die Zunge klebte ihm am Gaumen, und er spürte seinen Herzschlag im Rachen. Es war nicht das erste Mal, dass sie anriefen.
»Wir brauchen dich. Du kannst das Christmasland wiederaufbauen. Allein mit der Macht deiner Gedanken! Die ganzen Fahrgeschäfte. Und Buden. Und Spiele. Hier ist es total langweilig. Du musst uns helfen. Jetzt, wo Manx fort ist, gibt es nur noch dich.«
Wayne hörte, wie die Wohnungstür aufging. Als Tabitha Hutter in den Flur trat, legte er den Hörer auf die Gabel.
»Hat jemand angerufen?«, fragte sie ohne Argwohn in den graugrünen Augen.
» V erwählt«, sagte Wayne. »Der Kaffee ist bestimmt schon fertig.«
*
Etwas stimmte nicht mit ihm, und das wusste er auch. Kinder, denen es gut ging, bekamen keine Anrufe von Toten. Kinder, denen es gut ging, träumten keine solche Sachen. Aber die Telefonanrufe und die Träume waren noch nicht das Schlimmste. Schlimm war das Gefühl gewesen, das ihn beim Anblick eines Fotos von einem Flugzeugabsturz beschlichen hatte: Es war aufregend gewesen, und zugleich hatte er ein furchtbar schlechtes Gewissen gehabt – als hätte er sich einen Porno angeschaut.
Letzte Woche war er mit seinem V ater unterwegs gewesen, und als ein Streifenhörnchen vors Auto gerannt und zerquetscht worden war, hatte er laut gelacht. Sein V ater hatte sich zu ihm umgedreht und ihn mit hohläugiger V erwunderung angestarrt, aber nichts gesagt – möglicherweise, weil Wayne selbst ausgesprochen bestürzt dreingeschaut hatte. Wayne wollte es ganz bestimmt nicht lustig finden, wenn ein kleines Streifenhörnchen unter die Räder kam; über so etwas hatte Charlie Manx gelacht. Aber er hatte nicht anders gekonnt.
Ein anderes Mal hatte er auf YouTube einen Bericht über den V ölkermord im Sudan gesehen und festgestellt, dass sich auf seinem Gesicht ein Grinsen breitmachte.
Dann war durch die Medien gegangen, dass in Salt Lake City eine hübsche blonde Zwölfjährige mit einem schüchternen Lächeln entführt worden war. Wayne hatte die Nachrichten gebannt verfolgt – weil er das Mädchen beneidete.
Ständig hatte er das Gefühl, mehr Zähne zu haben, als er im Spiegel sah, irgendwo weit hinten in seinem Mund verborgen. Er strich sich mit der Zunge über den Gaumen und bildete sich ein, dass er sie spürte, eine Reihe kleiner Hubbel unter der Haut. Er wusste jetzt, dass er seine gewöhnlichen Zähne nur in seiner Fantasie verloren hatte, dass das Christmasland nur eine Halluzination gewesen war. Aber seine Erinnerung an diese anderen Zähne war realer, plastischer als sein übriges Leben: die Schule, die Besuche beim Therapeuten, die Mahlzeiten mit seinem V ater und mit Tabitha Hutter.
Manchmal hatte er das Gefühl, ein Teller zu ein, der in der Mitte auseinandergebrochen und wieder zusammengeklebt worden war. Nur dass die beiden Hälften einfach nicht richtig zueinanderpassten. Die eine Hälfte – der Teil des Tellers, der sein Leben vor Charlie Manx darstellte – wollte sich nicht an den anderen fügen. Wenn er zurücktrat und sich den schiefen Teller ansah, konnte er sich nicht vorstellen, warum irgendjemand ihn behalten wollte. Er war zu nichts mehr gut. Wayne war aber nicht einmal verzweifelt, wenn er das dachte – und das war ein Teil des Problems. Es war lange her, seit er so etwas wie V erzwei fl ung empfunden hatte. Bei der Beerdigung seiner Mutter hatte er großen Gefallen an den Kirchenliedern gefunden.
Als er seine Mutter das letzte Mal lebend gesehen hatte, wurde sie gerade auf einer Trage zu einem Krankenwagen gerollt. Die Sanitäter hatten es eilig gehabt. V ic hatte eine Menge Blut verloren. Letztlich pumpten sie drei Liter in sie hinein, genug, um sie eine Nacht lang am Leben zu halten, aber es dauerte zu lange, bis sie sich um die verletzte Niere und den Darm kümmerten – sie hatten nicht bemerkt, dass ihr Körper sich selbst vergiftete.
Wayne war neben seiner Mutter hergelaufen und hatte ihre Hand gehalten. Das war auf dem Parkplatz eines Gemischtwarenladens gewesen, nicht weit vom Sleigh House entfernt. Später erfuhr Wayne, dass seine Mutter und sein V ater sich auf diesem Parkplatz zum ersten Mal unterhalten
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