Christmasland (German Edition)
hatten.
»Du wirst schon wieder, mein Schatz«, hatte V ic zu ihm gesagt. Sie hatte gelächelt, obwohl ihr Gesicht blutverschmiert und schmutzig war. Über ihrem rechten Auge war eine nässende Wunde gewesen, und in ihrer Nase hatte ein Atemschlauch gesteckt. »Gold ist beständig, ganz egal, was man damit anstellt. Du wirst schon wieder.«
Er wusste, was sie meinte. Sie meinte, dass er nicht so war wie die Kinder im Christmasland. Dass er immer noch er selbst war.
Aber Charlie Manx hatte etwas anderes gesagt. Charlie Manx hatte gesagt, dass man Blut nicht mehr aus Seide rausbekam.
Tabitha trank einen ersten vorsichtigen Schluck von ihrem Kaffee und blickte zum Fenster über der Spüle hinaus. »Dein V ater hat den Wagen aus der Garage geholt. Nimm eine Jacke mit, falls es kühl wird.«
»Dann mal los«, sagte Wayne.
*
Sie quetschten sich alle zusammen in den Abschleppwagen, Wayne in der Mitte. Früher hätten sie da nicht zu dritt reingepasst, aber der neue Lou brauchte nicht mehr so viel Platz wie der alte. Der neue Lou sah mit seinen schlaksig herabhängenden Armen und dem eingefallenen Bauch unter seiner tonnenförmigen Brust ein wenig aus wie Boris Karloff in Frankenstein . Die passenden Narben hatte er auch vorzuweisen; sie verliefen unter dem Kragen seines Hemdes über den Nacken bis hinter das linke Ohr. Nach der Operation war sein Fett einfach dahingeschmolzen wie Eiscreme in der Sonne. Besonders seine Augen stachen jetzt hervor. Es gab keinen Grund, weshalb sich seine Augen verändern sollten, nur weil er an Gewicht verloren hatte, aber Wayne achtete jetzt viel mehr auf sie, spürte den durchdringenden, forschenden Blick seines V aters.
Wayne ließ sich neben seinem V ater auf die Bank zurücksinken und setzte sich dann auf, weil ihm etwas ins Kreuz drückte. Ein Hammer – kein Autopsiehammer, sondern ein gewöhnlicher Zimmermannshammer mit abgenutztem Griff. Wayne legte ihn zwischen sich und seinen V ater.
Der Abschleppwagen verließ Gunbarrel und folgte den steil ansteigenden Serpentinen durch die alten Fichten, die sich vor dem makellos blauen Himmel erhoben. Unten in Gunbarrel war es in der Sonne einigermaßen warm, aber hier oben rauschten die Wipfel der Bäume unruhig in der kühlen Brise, die nach Herbst duftete. Die Hänge glänzten golden.
»Und Gold ist beständig«, flüsterte Wayne, aber das stimmte nicht: Die Blätter fielen von den Bäumen und wurden über die Straße geweht.
»Was hast du gesagt?«, wollte Tabitha wissen.
Er schüttelte den Kopf.
»Wie wär’s mit etwas Musik?«, fragte Tabitha und griff an ihm vorbei, um das Radio einzuschalten.
Wayne hätte nicht sagen können, warum ihm Stille lieber war, aber die V orstellung, Musik zu hören, beunruhigte ihn.
V on einem leisen Knistern überlagert, besang Bob Seger den guten, alten Rock ’n’ Roll und weigerte sich, in die Disco zu gehen.
»Und wo genau soll der Unfall passiert sein?«, fragte Tabitha Hutter, und Wayne entging nicht, dass ihre Stimme ein wenig misstrauisch klang.
»Wir sind gleich da«, sagte Lou.
»Wurde jemand verletzt?«
Lou erwiderte: »Der Unfall ist schon eine Weile her.«
Wayne wusste nicht, wohin sie unterwegs waren, bis sie an dem Gemischtwarenladen vorbeikamen. Der Laden war schon seit über einem Jahrzehnt dichtgemacht worden. Die Zapfsäulen standen noch davor, eine davon ganz verkohlt. Sie hatte damals Feuer gefangen, als Manx hier angehalten hatte, um zu tanken. In den Hügeln über Gunbarrel gab es nicht wenige Minen und Geisterstädte, und an einer Blockhütte mit eingeschlagenen Fenstern, in der nur Schatten und Spinnweben hausten, war nichts Außergewöhnliches.
»Was führen Sie im Schilde, Mr. Carmody?«, fragte Tabitha Hutter.
»Etwas, worum mich V ic gebeten hat«, sagte Lou.
» V ielleicht hättest du Wayne nicht mitnehmen sollen.«
» V ielleicht hätte ich eher dich nicht mitnehmen sollen«, sagte Lou. »Ich möchte Beweismittel fälschen.«
»Und wenn schon«, sagte Tabitha. »Heute V ormittag hab ich frei.«
Lou fuhr weiter, und nach einer halben Meile wurde er allmählich langsamer. Rechts von ihnen tauchte der Kiesweg auf, der zum Sleigh House führte. Als Lou hineinbog, wurde das Knistern im Radio so laut, dass es Bob Segers Stimme fast übertönte. In der Nähe des Sleigh House war der Empfang schlecht. Sogar der Krankenwagen hatte damals Schwierigkeiten gehabt, per Funk die Klinik zu erreichen. Möglicherweise hatte es etwas mit der Felsformation zu tun. In
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