Christmasland (German Edition)
Die V orstellung schien ihn ehrlich zu überraschen. »Ich meine nur, dass ich sie anrufen und fragen könnte, ob sie vorbeikommen will.« Er runzelte nachdenklich die Stirn, und nach kurzem Zögern sprach er etwas langsamer weiter. »Ich glaube, es wäre mir jetzt noch nicht recht, wenn sie hier übernachtet. Irgendwie wäre das komisch … für uns alle.«
Wayne fand, dass die interessanteste Stelle an dieser Äußerung das »jetzt noch nicht« war, denn das legte nahe, dass sein V ater sich durchaus vorstellen konnte, Ms. Tabitha Hutter irgendwann bei ihnen übernachten zu lassen.
V or drei Tagen waren sie abends aus dem Kino gekommen – das machten sie jetzt manchmal, ins Kino gehen –, und als Wayne sich umgedreht hatte, hatte er gesehen, wie sein V ater Tabitha Hutter am Ellenbogen genommen und sie auf den Mundwinkel geküsst hatte. Sie hatte leicht den Kopf geneigt und gelächelt, was Wayne verriet, dass es nicht ihr erster Kuss gewesen war. Dafür war er zu beiläufig, zu routiniert. Dann hatte Tabitha Waynes Blick bemerkt und sich von Lou gelöst.
»Es würde mir nichts ausmachen!«, sagte Wayne. »Ich weiß, dass du sie magst. Ich mag sie auch!«
»Wayne«, entgegnete Lou. »Deine Mutter … deine Mutter war – ich meine, wenn ich sage, dass sie meine beste Freundin war, trifft es das nicht …«
»Aber jetzt ist sie tot«, sagte Wayne. »Und ich möchte, dass du glücklich bist. Und deinen Spaß hast!«
Lou musterte ihn ernst – und auch irgendwie traurig, fand Wayne.
»Na ja«, sagte Lou. »Ich mein ja nur, wenn du möchtest, kannst du hierbleiben. Tabitha wohnt ganz in der Nähe. Sie könnte in fünf Minuten hier sein. Ist es nicht großartig, einen Babysitter zu haben, der seine eigene Glock dabeihat?«
»Nein. Ich leiste dir Gesellschaft. Was hast du gesagt, wohin du fährst?«
»Gar nichts hab ich gesagt«, erwiderte Lou.
*
Tabitha Hutter schaute trotzdem vorbei, und zwar unangekündigt. Sie kam hoch in die Wohnung, als Wayne noch seinen Schlafanzug anhatte. Sie hatte einfach mit einer Tüte Croissants auf der Schwelle gestanden und erklärt, sie würde sie gegen einen Kaffee eintauschen. Natürlich hätte sie auch Kaffee mitbringen können, aber sie behauptete, Lous Kaffee würde ihr besonders gut schmecken. Wayne erkannte eine Ausrede, wenn er sie hörte. An Lous Kaffee war nichts Besonderes, außer man hatte eine V orliebe für einen leichten Beigeschmack von WD-40 .
Tabitha Hutter hatte sich nach Denver versetzen lassen, um bei den weiteren Ermittlungen im Fall McQueen zu helfen – ein Fall, bei dem nie Anklage erhoben worden war. Und das würde auch so bleiben. Sie hatte eine Wohnung in Gunbarrel und aß in der Regel einmal am Tag zusammen mit Lou und Wayne, vorgeblich um ihn über den Fall zu befragen. Meistens plauderten sie jedoch über Das Lied von Eis und Feuer . Lou hatte das erste Buch ausgelesen, kurz bevor er wegen seiner Angioplastie und seinem Magenbypass ins Krankenhaus gegangen war; die beiden Operationen wurden gleichzeitig durchgeführt. Tabitha Hutter war da gewesen, als Lou aus der Narkose aufgewacht war. Sie hatte ihm erklärt, sie wolle dafür Sorge tragen, dass er den Abschluss der Serie noch erleben werde.
»Hallo, Jungs«, sagte Tabitha. »Nehmt ihr vor mir Reißaus?«
»Ich muss noch was erledigen«, sagte Lou.
»Am Sonntagmorgen?«
»Auch da passieren Unfälle.«
Tabitha gähnte hinter vorgehaltener Hand, eine kleine Frau mit Kraushaaren in einem verblichenen Wonder-Woman -T-Shirt und Bluejeans, ohne Schmuck oder irgendwelche anderen Accessoires. V on einer Neun-Millimeter an ihrer Hüfte einmal abgesehen. »Okay. Macht ihr mir einen Kaffee, bevor wir gehen?«
Lou lächelte leise, sagte jedoch: »Du musst nicht mitkommen. Es kann eine Weile dauern.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was soll ich denn sonst mit mir anfangen? V erbrecher schlafen gern lange. Ich bin seit acht Jahren beim FBI , und bisher hatte ich vor elf noch nie einen Grund, jemanden zu erschießen. Jedenfalls solange ich meinen Kaffee kriege.«
*
Lou brühte eine dunkle Röstung auf und ging runter, den Wagen abfahrbereit zu machen. Tabitha folgte ihm. Wayne blieb allein im Flur und zog gerade die Schuhe an, als das Telefon klingelte.
Er starrte den schwarzen Apparat an, der rechts neben ihm auf einem Beistelltischchen stand. Es war kurz nach sieben, recht früh für einen Anruf – aber vielleicht ging es um den Auftrag, um den Lou sich gerade kümmern wollte. V ielleicht hatte
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