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Christmasland (German Edition)

Christmasland (German Edition)

Titel: Christmasland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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geröteten Augen. Wenn sie weinte, sah sie alt und hässlich aus.
    »Mama? Was ist passiert?«
    »Dein V ater hat angerufen. Er wird heute Abend nicht nach Hause kommen.«
    »Mama?«, sagte V ic und ließ ihren Rucksack von der Schulter auf den Boden gleiten. »Was soll das heißen? Wo ist er denn hin?«
    »Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wohin er geht und warum.«
    V ic starrte sie ungläubig an.
    »Wie, du weißt nicht, warum?«, fragte V ic ihre Mutter. »Dass er nicht mehr nach Hause kommt, liegt an dir, Mama. Er kann dich einfach nicht mehr ertragen. Weil du ihn ständig nur anmeckerst, wenn er müde ist und seine Ruhe haben will.«
    »Ich habe mir solche Mühe gegeben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich versucht habe, ihm alles recht zu machen. Ich habe ihm sein Bier in den Kühlschrank gestellt und ihm das Essen warm gemacht, wenn er spät nach Hause kam. Aber ich bin nun mal keine vierundzwanzig mehr, und das ist das eigentliche Problem. So alt war nämlich seine Letzte, weißt du.« Ihre Stimme klang nicht wütend, nur furchtbar müde.
    »Was meinst du mit ›seine Letzte‹?«
    »Das letzte Mädchen, mit dem er geschlafen hat«, sagte Linda. »Ich weiß nicht, mit wem er jetzt zusammen ist oder warum er beschlossen hat, mit dieser Frau durchzubrennen. Ich habe ihn nie dazu gezwungen, sich zwischen seiner Familie und seinen Affären zu entscheiden. Ich habe keine Ahnung, warum es diesmal anders ist. Wahrscheinlich ist sie wirklich hübsch.«
    Als V ic antwortete, klang ihre Stimme leise und zittrig. »Du bist so eine schlechte Lügnerin. Ich hasse dich. Ich hasse dich, und wenn Papa geht, dann will ich mitgehen.«
    »Aber V icky«, sagte ihre Mutter mit dieser seltsam erschöpften Stimme. »Er will dich nicht bei sich haben. Er hat nicht nur mich verlassen, weißt du. Er hat uns verlassen.«
    V ic floh aus dem Haus und schlug die Tür hinter sich zu. Sie lief in den frühen Oktobernachmittag hinaus. Das Licht fiel schräg durch die goldgrünen Blätter der Eichen auf der anderen Straßenseite. Sie liebte das Licht des Herbstanfangs in Neuengland – auf der ganzen Welt gab es nichts V ergleichbares.
    Sie stieg auf ihr peinliches rosafarbenes Fahrrad und fuhr schluchzend damit los. Sie machte einen Bogen um das Haus herum, radelte in den Wald und raste den Hügel hinunter. Der Wind pfiff ihr um die Ohren. Das Rad war kein Raleigh Tuff Burner, und sie spürte jeden Stein und jede Baumwurzel unter den schmalen Reifen.
    V ic würde nach ihm suchen. Sie würde zu ihm gehen. Er liebte sie, und wenn sie bei ihm bleiben wollte, würden sie einen Weg finden. Sie würde nie wieder nach Hause zurückkehren und sich das Gemecker ihrer Mutter anhören müssen, weil sie schwarze Jeans trug, sich wie ein Junge anzog oder nur mit V ersagern herumhing. Sie würde bloß den Hügel hinunterfahren müssen, und die Brücke würde dort sein.
    Doch das war sie nicht. Die alte Schotterstraße endete am Merrimack River. Flussaufwärts war das Wasser schwarz und glatt wie Rauchglas. Unter ihr war es aufgewühlt und brach sich weiß schäumend an Gesteinsbrocken. V on der Shorter Way Bridge waren lediglich drei fleckige Betonpfeiler übrig, die aus dem Wasser aufragten und an deren bröckelnden Enden die Moniereisen zu sehen waren.
    V ic fuhr mit dem Rad auf das Geländer zu und betete, dass die Brücke auftauchen möge. Doch kurz vor dem Geländer ließ sie das Fahrrad los, sprang ab und rutschte auf dem Hosenboden über die Straße. Sie sah nicht nach, ob sie sich wehgetan hatte, sondern rappelte sich auf und warf das Fahrrad mit beiden Händen über das Geländer. Es fiel die steile Uferböschung hinunter ins flache Wasser und blieb dort stecken. Ein Rad ragte aus dem Wasser und drehte sich wie wild.
    Fledermäuse tauchten in der Dämmerung auf.
    V ic hinkte ziellos in Richtung Norden, immer am Fluss entlang.
    Schließlich ließ sie sich, direkt unter dem Highway 495, auf der Uferböschung in das stoppelige, von Abfall übersäte Gras fallen. Sie spürte ein Stechen in der Seite. Über ihr rasten die Autos entlang und brachten die gewaltige Brücke, die über den Merrimack hinüberführte, zum Schwingen. Sie spürte die gleichmäßige, seltsam beruhigende V ibration in der Erde unter ihr.
    Eigentlich wollte V ic nicht einschlafen, aber eine Weile lang – vielleicht zwanzig Minuten – döste sie vor sich hin. Das tosende Knattern von Motorrädern, die zu zweit oder zu dritt über die Brücke rasten, versetzte

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