Christmasland (German Edition)
sie ihn eigentlich mochte – seinen Geruch nach frischem Kaffee und seinen lustigen österreichischen Akzent. Einmal hatte er ihre Bilder gelobt und ihr gesagt, dass sie Malerin werden könnte.
»Die Fledermäuse wurden aufgeschreckt«, erzählte V ic Mr. de Zoet vertraulich, als er sie zu ihrer Mutter brachte. »Die armen kleinen Biester tun mir leid. Ich glaube, ein paar von denen sind aus der Brücke hinausgeflogen und finden jetzt nicht mehr zurück.«
Den Rest des Tages verschlief sie und lag dann die halbe Nacht mit klopfendem Herzen wach. Sie fürchtete sich vor den unsinnigsten Dingen. Wenn ein Auto an ihrem Haus vorbeifuhr und das Licht der Scheinwerfer über die Zimmerdecke wanderte, musste sie sich die Fingerknöchel in den Mund stecken, um nicht laut aufzuschreien. Das Geräusch einer zufallenden Wagentür auf der Straße war so furchtbar wie ein Gewehrschuss.
Nachdem sie den dritten Tag im Bett verbracht hatte, wachte sie abends aus ihrem Dämmerzustand auf und hörte ihre Eltern im Nachbarzimmer reden.
»Wenn ich ihr sage, dass ich es nicht finden konnte, wird sie todtraurig sein«, sagte ihr V ater. »Sie hat dieses Fahrrad geliebt.«
»Ich bin froh, dass es weg ist«, sagte ihre Mutter. »So hat die ganze Sache wenigstens ein Gutes.«
V ics V ater lachte rau. »Sehr einfühlsam von dir.«
»Hast du gehört, was sie über ihr Fahrrad gesagt hat, als sie vorgestern nach Hause gekommen ist? Dass sie damit fährt, um den Tod zu finden? Ich glaube, genau das hat sie sich im Fieber eingebildet. Sie wollte mit dem Rad in den Himmel fahren. Oder ins Nachleben. Oder was weiß ich. Sie hat mir mit diesem Gerede eine Heidenangst eingejagt, Chris. Ich will das verfluchte Ding nie wieder sehen.«
V ics V ater schwieg einen Augenblick lang. Dann sagte er: »Ich denke trotzdem, dass wir einen Unfall mit Fahrerflucht melden sollten.«
» V on einem Unfall bekommt man kein Fieber.«
» V ielleicht war sie ja schon krank. Du hast gesagt, dass sie am Abend vorher früh ins Bett gegangen ist. Dass sie blass ausgesehen hat. Womöglich ist sie im Fieber vor ein Auto gefahren. Ich werde nie vergessen, wie sie in die Einfahrt gekommen ist. Ihr eines Auge hat geblutet, als würde sie Blut weinen …« Er verstummte. Als er weitersprach, klang sein Tonfall anders: herausfordernd und nicht besonders freundlich. »Was ist?«
»Ich … ich frage mich bloß, warum sie schon ein Pflaster auf dem Knie hatte.« Eine Weile lang war nur das Plappern des Fernsehers zu hören. Dann sagte V ics Mutter: »Wir besorgen ihr ein Fahrrad mit Gangschaltung. Es ist sowieso langsam Zeit für ein neues.«
»Es wird rosa sein«, flüsterte V ic vor sich hin. »Ich möchte wetten, dass sie eins in Rosa kauft.«
In gewisser Weise wusste V ic, dass mit dem V erlust des Tuff Burners etwas Wundervolles zu Ende ging. Dass sie es übertrieben und deshalb die großartigste Sache in ihrem Leben verloren hatte. Das Rad war ihr Messer gewesen. Mit einem anderen würde sie höchstwahrscheinlich nicht in der Lage sein, ein Loch in die Realität zu schneiden, um zur Shorter Way Bridge zu gelangen.
V ic schob eine Hand zwischen Matratze und Wand und griff unter ihr Bett, wo die Ohrringe und das zusammengefaltete Stück Papier lagen. Sie war so geistesgegenwärtig gewesen, beides an dem Nachmittag nach ihrer Heimkehr dort zu verstecken, und seither lagen sie unter ihrem Bett.
Plötzlich blitzte eine für eine Dreizehnjährige eher ungewöhnliche psychologische Erkenntnis in ihr auf: Dass die Ausflüge über die Brücke für sie bald kaum mehr sein würden als die Fantastereien eines besonders einfallsreichen Kindes. Die Begegnung mit Maggie Leigh oder mit Pete in Terry’s Primo Subs würden ihr irgendwann nur noch wie Tagträume erscheinen. Ohne ihr Fahrrad würde sie den Glauben an die Brücke nicht aufrechterhalten können. Ohne das Raleigh blieben ihr lediglich die Ohrringe in ihrer Hand und die gefaltete Fotokopie eines Gedichts von Gerard Manley Hopkins als Beweise für ihre Ausflüge.
Die Ohrringe zeigten ein F und ein U. Zusammen fünf Punkte.
»Warum kannst du nicht mit uns an den See kommen?«, fragte V ics Mutter nebenan, und ihre Stimme klang ein wenig weinerlich. Linda und Chris unterhielten sich gerade über die Sommerferien. Sobald V ic gesund war, wollte ihre Mutter unbedingt wegfahren. »Was hält dich denn hier?«
»Mein Job. Wenn du willst, dass ich drei Wochen am Lake Winnipesaukee verbringe, dann mach dich darauf gefasst, in
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