Christmasland (German Edition)
hinuntergerollt und dann …
Nichts mehr. Die Nacht schmolz dahin wie eine Schneeflocke auf der Zungenspitze.
Sillman hatte selbst Töchter – und Enkelinnen –, und die V orstellung, dass Marta und ihre Mutter einem Ted Bundy oder Charles Manson in die Hände gefallen sein könnten, der sie zu Tode folterte, machte ihn ganz krank. Er konnte nicht schlafen und hatte Albträume, in denen das kleine Mädchen mit den abgetrennten Fingern ihrer Mutter Schach spielte. Mit aller Kraft versuchte er, sich an irgendetwas zu erinnern. Aber ihm fiel nur ein einziges Detail ein.
»Lebkuchen«, erklärte er seufzend einem pockennarbigen Ermittler des FBI , der Peace hieß, aber nicht besonders friedlich aussah.
»Lebkuchen?«
Sillman sah den Ermittler mit hoffnungslosem Blick an. »Im Schlaf habe ich damals von den Lebkuchen meiner Mutter geträumt. V ielleicht hat der Kerl, der da an meine Scheibe geklopft hat, ja danach gerochen.«
»Hm, das ist ein nützliches Detail«, sagte Mr. Peace. »Wir werden nach dem Lebkuchenmann fahnden lassen. Allerdings bezwei fl e ich, dass es viel bringen wird. Es heißt, er sei schwierig zu schnappen.«
*
Im November 1991 stieg ein vierzehnjähriger Junge namens Rory McCombers, ein Neuling an der Gilman School in Baltimore, auf dem Parkplatz seines Wohnheims in einen Rolls-Royce ein. Rory befand sich auf dem Weg zum Flughafen, weil er über Thanksgiving zu seiner Familie in Key West fahren wollte, und glaubte, sein V ater hätte ihm den Wagen geschickt.
Der eigentliche Fahrer lag jedoch einen Kilometer entfernt bewusstlos in seinem Auto. Hank Tulowitzki hatte bei einem Night Owl angehalten, um zu tanken und auf die Toilette zu gehen. Er wachte um ein Uhr nachts im Kofferraum seines Wagens auf, der ein paar Dutzend Meter vom Night Owl entfernt auf einem öffentlichen Parkplatz abgestellt war, und konnte sich an nichts mehr erinnern. Fünf Stunden lang versuchte er, sich schreiend und tretend bemerkbar zu machen, bis ein Jogger am frühen Morgen auf ihn aufmerksam wurde und die Polizei rief.
Ein Pädophiler aus Baltimore gestand später das V erbrechen und beschrieb in allen Einzelheiten, wie er sich an Rory vergangen und ihn danach erwürgt hätte. Er behauptete jedoch, sich nicht daran zu erinnern, wo er die Leiche des Jungen vergraben hatte, und die restlichen Indizien passten ebenfalls nicht zu der Tat. Weder hatte er Zugang zu einem Rolls-Royce, noch besaß er einen gültigen Führerschein. Als die Polizei endlich zu dem Schluss kam, dass der Kinderschänder eine Sackgasse darstellte – ein Perverser, der zum Spaß sexuelle Übergriffe auf Minderjährige beschrieb und aus reiner Langeweile Geständnisse ablegte –, hatte es bereits einige neue Entführungen gegeben, und die Spuren in der McCombers-Ermittlung waren längst kalt geworden.
Rorys Fahrer, Tulowitzki, wurde ebenso wie Gregorskis Fahrer, Sillman, erst über einen Tag nach der Entführung einer Blutuntersuchung unterzogen. Sollten Spuren von Sevofluran in den Körpern der beiden Männer vorhanden gewesen sein, blieben sie jedenfalls unentdeckt.
Das V erschwinden von Marta Gregorski wurde nie mit der Entführung von Rory McCombers in V erbindung gebracht, obwohl die beiden Fälle viele Gemeinsamkeiten aufwiesen.
Beispielsweise, dass keines der Kinder jemals wieder auftauchte.
Haverhill
C hris McQueen machte sich in dem Herbst davon, als V ic an die Highschool kam.
Das erste Jahr hatte für sie etwas holprig begonnen. Überall bekam sie nur Dreien, außer in Kunst. Die Beurteilung ihrer Kunstlehrerin auf dem Zeugnis, acht hastig hingekritzelte Worte, lautete: » V ictoria hat Talent, muss sich aber besser konzentrieren.« Sie gab ihr eine Zwei.
V ic hatte sich innerhalb kurzer Zeit einen Namen gemacht. Sie malte sich mit wasserfesten Stiften Bilder auf die Haut, um ihre Mutter zu ärgern und die Jungs zu beeindrucken. Sie lieferte eine Buchrezension in Comicform ab – zur Belustigung der anderen Hinterbänkler. Als Klassenclown hätte sie sich eine glatte Eins verdient. Statt des Raleighs besaß sie jetzt ein Schwinn mit rosa- und silberfarbenen Quasten am Lenker. Sie konnte es nicht ausstehen und fuhr nie damit. Es war ihr peinlich.
Als V ic eines Tages nach Hause kam – sie hatte nach Schulschluss noch eine Weile nachsitzen müssen –, fand sie ihre Mutter zusammengekauert auf dem Wohnzimmersofa vor, die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie hatte geweint … weinte immer noch. Tränen liefen ihr aus den
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