Christmasland (German Edition)
um eine Hand. Damit versuchte sie noch einmal, die Tür zu öffnen.
Aber selbst mit dem Laken konnte sie den Türgriff nur kurz anfassen. Dennoch warf sie sich mit aller Kraft gegen die Tür – dann ein weiteres Mal. Die Tür erzitterte und öffnete sich quietschend einen halben Zentimeter weit – genug, um einen Schwall widerlichen braunen Rauch hereinzulassen. V iel konnte V ic durch den Spalt nicht erkennen. Sie sah nicht einmal die Flammen.
Sie trat einen Schritt zurück und warf sich noch einmal gegen die Tür. Diesmal stieß sie so heftig dagegen, dass sie zurückprallte, sich mit den Füßen im Bettlaken verfing und stürzte. Sie stieß einen wütenden Schrei aus und warf das Laken von sich. Die ganze Speisekammer war inzwischen voller Rauch.
Mit einer Hand langte sie nach der Waschmaschine und mit der anderen nach dem Griff des Stahlschranks, um sich hochzuziehen. Doch als sie sich fast aufgerichtet hatte, klappte die Tür des Schranks nach unten auf, und sie fiel erneut hin.
Die Stirn an das kalte Metall der Waschmaschine gedrückt, ruhte sie sich einen Moment lang aus. Als sie die Augen schloss, spürte sie die kühle Hand ihrer Mutter auf ihrer fiebrigen Stirn.
Unsicher kam sie wieder auf die Beine. Sie ließ den Griff des Stahlschranks los, dessen Tür von allein wieder zuklappte. Die giftige Luft brannte ihr in den Augen.
Sie öffnete die Klappe noch einmal. Dahinter befand sich ein Wäscheschacht, ein schmales, dunkles Metallrohr.
V ic steckte den Kopf durch die Öffnung und blickte nach oben. Etwa drei Meter über sich konnte sie undeutlich eine kleine Luke ausmachen.
Dort oben wartet er auf mich.
Aber das spielte keine Rolle. In der Speisekammer konnte sie auf keinen Fall bleiben.
Sie setzte sich auf die offene Stahltür, die mit Federn von der Wand abgeklappt wurde, und schob den Oberkörper durch die Öffnung. Dann zog sie die Beine hinterher und glitt hinein in den
Wäscheschacht
M it siebzehn war V ic nur zwanzig Kilo schwerer und acht Zentimeter größer, als sie es mit zwölf gewesen war – ein dünnes Mäd chen, das nur aus Beinen bestand. Dennoch war es in dem Wä scheschacht sehr eng. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, stemmte die Füße gegen die gegenüberliegende Seite des Schachts und schob sich Zentimeter um Zentimeter höher. Brau ner Rauch waberte durch die Luft und brannte in ihren Augen.
Ihre Oberschenkel fingen an zu schmerzen. Sie rutschte weitere fünfzehn Zentimeter höher. Die Muskeln in ihrem Kreuz begannen sich ebenfalls bemerkbar zu machen.
Sie hatte etwa die Hälfte der Strecke zum oberen Stockwerk zurückgelegt, als ihr linker Fuß plötzlich abrutschte. Ihr Hinterteil glitt nach unten. Sie spürte ein Reißen im rechten Oberschenkel und schrie auf. Einen Moment lang war sie noch in der Lage, sich zu halten, doch dann wurde das Gewicht für ihr rechtes Bein zu viel. Sie konnte den Schmerz nicht mehr ertragen. Ihr rechter Fuß glitt von der Wand ab, und sie fiel zum Boden des Schachts zurück.
Es war ein schmerzhafter Sturz. Sie kam auf dem Aluminiumboden des Schachts auf und rammte sich dabei das rechte Knie ins Gesicht. Ihr linker Fuß stieß gegen die Stahltür, die daraufhin nach unten klappte.
Einen Moment lang spürte V ic Panik in sich aufsteigen. Sie fing an zu weinen, und als sie sich erneut in dem Wäscheschacht aufrichtete, versuchte sie nicht einmal mehr zu klettern, sondern sprang stattdessen in die Höhe, obwohl die Luke im oberen Stockwerk außer Reichweite war und es in dem glatten Aluminiumschacht nichts gab, woran sie sich hätte festhalten können. Sie schrie lauthals um Hilfe. Der Schacht war voller Rauch, der ihr die Sicht nahm, und ihre Schreie wurden von einem trockenen, schmerzhaften Husten erstickt. Sie hustete und hustete und glaubte, nie wieder aufhören zu können. Beinahe hätte sie sich sogar übergeben müssen. Am Ende spuckte sie aus. Ihr Speichel schmeckte nach bitterer Galle.
Es war nicht der Rauch, der ihr Angst einjagte, oder die Schmerzen in ihrem rechten Oberschenkel, wo sie sich definitiv einen Muskel gezerrt hatte. Es war ihre vollkommene Einsamkeit. Was hatte ihre Mutter zu ihrem V ater gesagt? Du bist nicht derjenige, der sie großzieht, Chris! Ich mache das! Ich mache das ganz allein! Es war schrecklich, ganz allein und ohne jede Unterstützung zu sein. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihre Mutter das letzte Mal umarmt hatte: ihre verängstigte, ständig aufbrausende, unglückliche Mutter,
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