Christmasland (German Edition)
rechten Bein. Als sie das Motorrad erreicht hatte, hielt sie sich nicht lange mit Erklärungen auf, sondern schwang ein Bein über den Sitz und schlang ihre Arme um seine Hüfte.
V erwundert und ein wenig erschrocken sah er sie an. Er trug schwarze fingerlose Lederhandschuhe und eine Lederjacke, deren Reißverschluss offen stand. Darunter war ein Weird-Al-T-Shirt zu sehen, und aus der Nähe erkannte V ic, dass er viel jünger war, als sie anfangs vermutet hatte. Seine Haut unter dem Bart war glatt und rosig und seine Mimik wie die eines Kindes entwaffnend offen. Wahrscheinlich war er etwa in ihrem Alter.
»He!«, sagte er. »Geht es dir gut? Hattest du einen Unfall?«
»Ich muss zur Polizei. Da ist dieser Mann. Er wollte mich umbringen. Er hat mich in einem Raum eingesperrt und dann das Haus in Brand gesteckt. Außerdem hat er einen kleinen Jungen in seiner Gewalt. Ich konnte mich befreien, aber den Jungen hat er mitgenommen. Wir müssen hier weg. Womöglich kommt er wieder.« Sie hatte keine Ahnung, ob das alles halbwegs sinnvoll klang. Die einzelnen Sätze stimmten zwar, aber sie hatte das Gefühl, dass sie sie irgendwie ungünstig aneinandergereiht hatte.
Der junge Mann mit dem Bart sah sie an, als würde sie eine fremde Sprache sprechen – Tagalog vielleicht, oder Klingonisch. Wie sich später herausstellte, hätte Louis Carmody sie allerdings wahrscheinlich sogar verstanden, wenn sie Klingonisch gesprochen hätte.
»Es brennt!«, rief sie. »Feuer!« Sie deutete mit dem Finger in Richtung der Sandstraße.
V om Highway aus war das Haus nicht zu sehen, und die schmale Rauchfahne, die über den Bäumen aufstieg, hätte auch aus einem Schornstein oder von einem Laubfeuer stammen können. Aber ihr Ausruf riss den jungen Mann aus seiner Starre.
»Halt dich gut fest!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme und gab so abrupt Gas, dass V ic schon fürchtete, die Reifen würden platzen.
Der Magen sackte ihr in die Kniekehlen, und sie schlang die Arme noch fester um den Jungen. Einen Moment lang rechnete sie fast damit, umzustürzen, denn das Motorrad schlingerte gefährlich, doch es gelang dem Jungen, die Maschine zu stabilisieren. Schon bald begann die weiße Mittellinie der Straße im Stakkatorhythmus an ihnen vorbeizurasen, ebenso wie die Tannen zu beiden Seiten.
V ic wagte es, zurückzublicken. Beinahe erwartete sie, das alte schwarze Auto hinter ihnen auftauchen zu sehen, aber der Highway blieb leer. Sie drehte den Kopf und presste ihre Wange gegen den Rücken des Jungen. Das Haus des alten Mannes blieb hinter ihnen zurück, während sie auf die blauen Hügel zuhielten. Sie war entkommen, in Sicherheit. Es war vorbei.
Oberhalb von Gunbarrel, Colorado
D er Junge bremste ab.
»Was machst du?«, schrie V ic.
Sie hatten kaum einen Kilometer auf dem Highway zurückgelegt. V ic blickte über die Schulter. Sie konnte sogar noch die Sandstraße sehen, die zu dem schrecklichen Haus führte.
»Wir müssen Hilfe holen«, sagte der Junge. »Da drinnen gibt es ein Telefon.«
Sie näherten sich einer rissigen Asphaltstraße, die rechts vom Highway abzweigte. An der Kreuzung befand sich ein kleiner Gemischtwarenladen mit zwei Tanksäulen davor. Der Junge hielt direkt vor dem Eingang und schaltete den Motor aus, noch bevor die Maschine ausgerollt war. V ic wollte protestieren. Sie befanden sich noch viel zu nahe am Haus des alten Mannes! Aber der dicke Junge war bereits abgestiegen und reichte ihr eine Hand, um ihr herunterzuhelfen.
Sie stolperte, als sie die Ladentreppe hochstieg, und wäre beinahe hingefallen. Der Junge fing sie auf. Sie drehte sich zu ihm um und musste dabei ein paar Tränen wegblinzeln. Warum weinte sie? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie nicht anders konnte. In kurzen, erstickten Atemzügen holte sie Luft.
Erstaunlicherweise sah der dicke Junge, Louis Carmody, der mit seinen fast zwanzig Jahren schon einiges auf dem Kerbholz hatte – V andalismus, Ladendiebstahl, Rauchen trotz Minderjährigkeit –, selbst so aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Seinen Namen erfuhr V ic erst später.
»He«, sagte er. » He! Ich werde nicht zulassen, dass dir was passiert. Du bist in Sicherheit. Ich werde dich beschützen.«
Sie wollte ihm gern glauben, konnte es jedoch nicht. Ein Kind hätte seinen Worten geglaubt, aber sie war kein Kind mehr. Deshalb beschloss sie, ihn stattdessen zu küssen. Nicht sofort, sondern später – später würde sie ihm den Kuss seines Lebens
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