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Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Titel: Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
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Flocken ihm große Mühe bereiteten, den Schlitten in der Bahn zu halten. Doch er war ein erfahrener Musher und ließ sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen, vermied selbst den Anflug einer Panik und meisterte die Herausforderung, ohne einmal vom Weg abzukommen. Seine Hunde waren wohlerzogen und hörten auf den leisesten Befehl, der oft nur eine Andeutung oder ein Wort aus der Indianersprache war, das Leonard leise vor sich hinmurmelte.
    Jenseits des Hanges erreichten sie einen weiteren Jagdtrail, der dicht an den Felsen entlang zu einem der Pässe hinaufführte, die Clarissa so verzweifelt gesucht hatte. Auch hier pfiff der Wind, und eisige Schleier wehten über sie hinweg, doch der Indianer kannte den Trail genau und folgte den inzwischen unsichtbaren Spuren, die er und seine Stammesbrüder in den Schnee gestampft hatten. »Es ist nicht mehr weit!«, rief er, als sie die Passhöhe erreicht hatten und über einen gewundenen Trail ins Tal hinunterfuhren. Auf dieser Seite des Berges waren sie vor dem Wind geschützt und kaum noch durch aufgeworfenes Eis, Verwehungen oder andere Hindernisse zu Umwegen gezwungen.
    Als sie das Tal erreicht hatten und durch einen lichten Wald fuhren, war sie schon wieder eingeschlafen und merkte gar nicht, wie die runden Häuser eines Shuswap-Dorfes vor ihr auftauchten: aus Balken und Lehm errichtete Unterkünfte, deren Erddächer mit einer dicken Schneeschicht bedeckt und kaum als solche zu erkennen waren. Erst das vielstimmige Geheul zahlreicher Huskys weckte sie aus ihrer Benommenheit.

26
    Vor dem größten Erdhaus hielt Bill Leonard an. Clarissa richtete sich stöhnend auf und sah sich von zahlreichen Männern, Frauen und Kindern umgeben, die sie wie eine Kuriosität bestaunten, obwohl sie schon seit einigen Jahren mit den Weißen in Kontakt lebten und sogar wie sie gekleidet waren. Die meisten Männer trugen einfache Baumwollhosen und zerschlissene Pullover oder Jacken, die Frauen zum Teil bunte Kleider oder Röcke und Decken der Hudson’s Bay Company über den Schultern. Sie blickten neugierig und auch ein wenig ängstlich auf sie herab und wichen erst zur Seite, als Bill Leonard vom Trittbrett stieg und rief: »Die Frau, die mit den Wölfen spricht, Häuptling!«
    Der Häuptling, der eigentlich »Wunuxtsin« hieß, bei den Weißen aber als »John Christian« bekannt war und von seinem Stamm nur »Häuptling« genannt wurde, trat aus seiner Hütte, feierlich wie ein Staatsmann und in kostbare Felle wie seine Vorfahren gekleidet. Auf dem Kopf trug er eine Fellmütze mit Adlerfedern und einigen Amuletten aus geschnitzten Knochen. Sein faltiges Gesicht erinnerte Clarissa an einen alten Fischer in Vancouver, der noch im Alter von achtzig Jahren aufs Meer gefahren war. Er hob beide Hände und sagte etwas in seiner Sprache, das wie eine Begrüßung klang. Clarissa verstand kein Wort. Genauso gut hätte er auch Chinesisch sprechen können.
    »Wunuxtsin spricht kein Englisch«, erklärte Bill Leonard und übersetzte die Worte seines Häuptlings: »Ich bin Wunuxtsin, der Häuptling der Shuswap. Ich heiße dich im Namen aller Bewohner dieses Dorfes willkommen. Wir alle haben die Geschichte von der Frau, die mit den Wölfen spricht, gehört und vertrauen deinen magischen Kräften. Hört-den-Donner, unser Medizinmann, hat dich in seinen Träumen gesehen und vertraut den Geistern, die dich in unser Dorf geschickt haben. Du wirst den Winter bei uns verbringen.«
    Clarissa hörte staunend zu. Sie glaubte weder über magische Kräfte zu verfügen noch von irgendwelchen Geistern in das Indianerdorf geschickt worden zu sein. Oder hatte sie den jungen Indianer in ihrer Benommenheit falsch verstanden? Noch immer war sie nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte. Ihre Worte kamen langsam. »Ich bin Clarissa Howe … Ich weiß nicht, ob ich … ich über magische Kräfte verfüge … Ich will … will euch nicht zur Last fallen.«
    Bill Leonard übersetzte, und der Häuptling schüttelte ernst den Kopf. »Du fällst uns nicht zur Last. Wer mit den Wölfen spricht, hat starke Medizin und wird unserem Volk helfen. Du wirst bei Bill Leonard und seiner Frau wohnen. Sobald du gesund bist, wirst du uns in eine bessere Zukunft führen.« Er blickte Bill Leonard an und nickte. »Das ist alles, was ich zu sagen habe.«
    Der Häuptling gab den Dorfbewohnern mit einer gebieterischen Handbewegung zu verstehen, die weiße Frau nicht zu bedrängen, und kehrte in seine Hütte zurück. Clarissa sank wieder auf das

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