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Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis

Titel: Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
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großes Glück gehabt, das begriff sie erst jetzt so richtig. Hätte der Indianer sie nicht gefunden, läge sie wahrscheinlich schon längst erfroren im Schnee. Aber war es wirklich Glück gewesen? Oder hatte der Medizinmann recht, und Bones hatte ihr tatsächlich geholfen, auf den versteckten Pfad zu kriechen? Hatte er von der Frau, die mit den Wölfen spricht, geträumt und gewusst, dass man sie dort finden würde? Noch stritten Wahrheit und Einbildung um die Vorherrschaft in ihren Gedanken, und sie konnte nicht sagen, was dort draußen wirklich passiert war.
    Sie schlief ein, noch bevor Bill zurückkehrte und Susan ihr etwas zu essen geben konnte, und wachte spät am nächsten Morgen auf. Weder Susan noch ihr Mann waren in der Hütte, doch Bills greise Mutter wurde auf sie aufmerksam, füllte eine kleine Schüssel mit Wildeintopf aus dem Kessel über dem Feuer und reichte sie ihr wortlos. »Danke«, sagte Clarissa. »Wo ist Susan?«
    »Nicht da«, erwiderte die Alte barsch und unterstrich ihre Antwort mit einer heftigen Handbewegung. Also verstand sie doch ein paar Worte Englisch.
    Clarissa ließ sich den Eintopf schmecken. Sie fühlte sich schon wesentlich besser, vor allem der Schwindel hatte nachgelassen, und sie spürte nur noch eine dumpfe Benommenheit in ihrem Hinterkopf. Ihr Rücken schmerzte nur, wenn sie sich zu schnell oder falsch bewegte. Sorgen bereitete ihr lediglich der verstauchte Fuß, der an diesem Morgen stark brannte und geschwollen war. Ein Löffel Laudanum hätte ihr gutgetan, obwohl sie einigermaßen hart im Nehmen war und schon ganz andere Schmerzen ausgehalten hatte.
    Nach dem Essen schlief sie wieder ein und erwachte ungefähr zwei Stunden später. Das bildete sie sich jedenfalls ein, besaß sie doch weder eine Uhr, noch konnte sie in der fensterlosen Hütte nach draußen blicken. Susan war noch immer nicht zurückgekehrt, doch Bill saß am Feuer und reinigte sein Gewehr. Auch er benahm sich seltsam, blickte alle paar Minuten von seiner Arbeit auf und starrte ins Feuer, die Augen feucht wie bei einem Menschen, dem großes Leid widerfährt. War er krank? Sorgte er sich um seine Frau, die aus irgendeinem Grund verschwunden war? Oder weinte er um seine alte Mutter, die den ganzen Tag apathisch in der Dunkelheit saß und sich nur erhob, wenn es unbedingt sein musste, als ob der Tod bereits in ihrer Nähe war.
    Sie wagte nicht, ihn nach dem Grund zu fragen. Sie war froh, dass sie überhaupt bei den Leonards wohnen und ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen durfte, und hatte nicht vor, sie mit einer unhöflichen Frage zu bedrängen. Als Bills Mutter unvermutet vor ihrem Lager auftauchte und den Verband um ihren verstauchten Fuß erneuerte, nickte sie dankbar. Der Tee, den die Alte ihr wenig später reichte, linderte die Schmerzen in ihrem Fuß.
    Als sie am nächsten Morgen erwachte, war Susan wieder da und behandelte sie so freundlich wie am ersten Tag, gab ihr zu essen, rieb ihren Rücken ein und wechselte den Verband um ihren Knöchel. Sie ließ nicht erkennen, wo sie gewesen war. Es konnte tausend Gründe für ihr Verschwinden geben, einer so harmlos wie der andere, doch als Clarissa die Alte dabei ertappte, wie sie Susan mit einem verächtlichen Blick bedachte, wurde ihr klar, dass etwas anderes dahintersteckte. Ein anderer Mann? Das würde auch Bills traurige Blicke erklären, doch aus Erzählungen glaubte sie zu wissen, dass Indianerfrauen besonders treu waren und Ehebruch streng bestraft wurde. Doch was konnte sonst der Grund für ihr Verschwinden sein? War sie krank und verwirrt? War sie den ganzen Tag Holz sammeln? Besuchte sie eine Freundin?
    Clarissa blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn kaum war sie mit ihrem Frühstück fertig, betrat Hört-den-Donner die Hütte. Mit seiner beeindruckenden Gestalt schien er den ganzen Raum auszufüllen. Er war größer als die meisten weißen Männer, die sie kennengelernt hatte, und beinahe so abenteuerlich wie die Medizinmänner in den Buffalo-Bill-Geschichten gekleidet. Anders als der Häuptling und die anderen Männer im Dorf trug er eine Hose und einen Anorak aus Karibufell, eine Kette aus Bärenzähnen und bunten Perlen. Sein Kopfschmuck bestand aus einer Fellmütze und einem abgebrochenen Karibugeweih. Die zahlreichen Falten und Furchen in seinem Gesicht erzählten von einem ereignisreichen Leben, und in seinen dunklen Augen war so viel Feuer, dass er jünger schien, als er wirklich war.
    »Ich bin Hört-den-Donner«, stellte er

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