Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
war nicht bei ihnen. »Hört-den-Donner ist ein guter Mann«, sagte Bill.
Clarissa hatte den Eindruck, dass er nur etwas sagte, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, und stimmte ihm zu. »Ich dachte, heilige Männer wie ihn gäbe es nur in den Geschichten von Buffalo Bill. Kennst du Sitting Bull?«
Trotz der gedrückten Stimmung, in der er sich befand, brachte Bill ein Lächeln zustande. »Jeder kennt Sitting Bull. Er war ein großer Häuptling und Medizinmann der Sioux. Du wirst lachen, auch ich habe von ihm in den Buffalo-Bill-Heften gelesen. Aber die Indianer, die dort beschrieben werden, sind anders. Sieh uns an. Wir besitzen weder Pferde noch Tipis, und nur wenige Jäger tragen Gewehre. Die Weißen haben uns in kleine Reservate abgedrängt, wo wir kaum noch Platz zum Leben haben und wo es jedes Jahr weniger Wild gibt. Nicht einmal die Lachse kommen noch in Scharen die Flüsse herauf. Je näher das Frühjahr rückt, desto weniger haben wir zu essen. Wir sind keine glorreichen Krieger wie die Sioux. Wir sind arme … arme Bettler.«
Der Tag verging, ohne dass sich Susan blicken ließ, und Clarissa setzte mehrmals an, Bill nach ihr zu fragen, doch sie bremste sich jedes Mal noch rechtzeitig. Aber irgendwas ging in dieser Familie nicht mit rechten Dingen zu. Um das Abendessen kümmerte sich Bills Mutter, kopfschüttelnd und sichtlich verstimmt, und als Susan endlich erschien, waren ihre Augen verweint und blutunterlaufen, und sie verkroch sich, ohne etwas zu sagen, in ihren Decken.
In der folgenden Nacht wurde Clarissa durch leise Stimmen geweckt. Sie hob den Kopf und hörte, wie Bill eindringlich auf seine Frau einsprach. Obwohl er Englisch sprach, verstand Clarissa nur Halbsätze, die allerdings keinen Sinn ergaben. Susan weinte. Sie konnte Bills Mutter nicht sehen, war aber beinahe sicher, dass die Alte ebenfalls wach war und die beiden beobachtete. Sie glaubte sogar, die grimmige Miene der Frau zu erkennen.
Was war nur mit Susan los?
27
Als sie drei Wochen nach ihrer Ankunft im Indianerdorf wieder einigermaßen laufen konnte und zum ersten Mal die Hütte verließ, schreckte sie vor der plötzlichen Helligkeit zurück und blieb geblendet stehen, bis sich ihre Augen an die ungewohnte Umgebung gewöhnt hatten. Am Himmel standen nur vereinzelte Wolken, und in der Sonne glitzerte der Schnee.
Sie war noch nicht vollkommen gesund. Die Beule war zurückgegangen, und ihr Kopf war klar, auch im Rücken verspürte sie nur noch Schmerzen, wenn sie sich ungeschickt bewegte, aber ihr rechter Fuß machte ihr immer noch einige Schwierigkeiten, und es würde wohl noch zwei oder drei Wochen dauern, bis sie wieder unbeschwert auftreten konnte. Aber sie wollte nicht den Eindruck erwecken, den Winter auf Kosten der Indianer zu verbringen, und wenigstens ihren guten Willen zeigen, indem sie beim Holzsammeln half.
Vor allem Wunuxtsin verfolgte ihre Bemühungen mit Genugtuung. Der Häuptling war einige Male bei den Leonards zu Besuch gewesen, angeblich, um Geschichten zu erzählen, aber sicher auch, um festzustellen, ob sie die Frau war, die Hört-den-Donner angekündigt hatte, und nicht nur darauf aus war, ihre Pflege in Anspruch zu nehmen. Clarissa spürte sein Misstrauen und hätte ihm am liebsten ein paar Münzen von ihren Ersparnissen gegeben, die sie in dem kleinen Lederbeutel mit sich führte, fürchtete aber, ihn damit zu demütigen und womöglich sogar zu beleidigen.
Eine gute Gelegenheit, den Indianern ein paar Münzen zukommen zu lassen, ergab sich während eines Potlatch-Festes, das die Dorfbewohner im Winter abhielten. Sie trafen sich in der großen Versammlungshütte, tanzten, sangen und aßen und hörten dem Häuptling zu, der seine verantwortliche Stellung vor allem seiner Fähigkeit, spannende Geschichten erzählen zu können, verdankte. Den Höhepunkt des Festes bildete jedes Mal der Austausch von Geschenken, die auf eine Decke gelegt und vor allem an bedürftige und schwache Bewohner verteilt wurden. Clarissa legte einen kleinen Beutel, den einige bunte Perlen zierten, auf die Decke und fing sich einen anerkennenden Blick des Häuptlings ein, der beschloss, damit zusätzliche Lebensmittel für den strengen Winter in einem nahe gelegenen Handelposten zu kaufen.
Bei dem anschließenden Rundtanz um das Feuer kam sie neben Susan zu stehen und spürte, wie sich eine Hand der Indianerin in ihre schob und so fest zudrückte, als erlitte sie starke Schmerzen. Clarissa empfand die Berührung eher als Hilferuf, und
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