Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
loszukommen. »Am Anfang wird dir schlecht, und dich plagen große Schmerzen, aber die gehen vorbei, und dann bist du gesund und kannst wieder wie andere Frauen leben. Erinnerst du dich denn nicht, wie schön es war, als du noch nicht süchtig danach warst?«
Susan nickte schluchzend. »Nur noch ein Krug, dann höre ich auf!«
»Du hörst sofort auf, Susan, sonst klappt es nicht. Wenn du über die ersten paar Tage hinweg bist, hast du schon halb gewonnen. Du schaffst das, Susan! Du bist stark! Du lässt dich nicht von diesem blöden Feuerwasser besiegen.«
»Noch ein Krug … Wenigstens einen Schluck!«
»Nein, Susan! Denk an deinen Mann! Denk an deine Zukunft!«
»Ich kann nicht, Clarissa … Ich …«
»Ich helfe dir, Susan! Halt dich an mir fest!«
Das tat sie tatsächlich, nicht nur auf dem Rückweg, sondern auch während der nächsten Tage, die noch schlimmer verliefen, als Clarissa es von dem Fischer in Erinnerung hatte. Aber den hatte sie auch nicht beobachtet, als er allein in seiner Hütte lag und die Dämonen bekämpfte, die auf ihn eindrangen.
Susan benahm sich wie eine Wahnsinnige, schrie und tobte und weinte, und wäre ihr Mann nach ihrer Rückkehr nicht den ganzen Tag bei ihr geblieben und hätte ständig auf sie eingeredet, wäre sie wohl davongelaufen, mit Absicht gegen einen Baum gerannt und irgendwo in der Wildnis erfroren.
Noch schlimmer war es während der folgenden Nacht. Clarissa lag nur wenige Schritte von ihr entfernt, als sie plötzlich heftig zu frieren und zu zittern begann, obwohl das Feuer brannte und Bill es in dieser Nacht besonders stark lodern ließ. Sie klammerte sich mit Armen und Beinen an ihren Mann, schlug plötzlich wütend auf ihn ein, beschimpfte ihn, obwohl er weder etwas gesagt noch getan hatte, und schrie so laut, dass die Alte wütend aufstand, ihre Decken nahm und in die Nachbarhütte zu einer Freundin ging. Die indianischen Flüche, die sie dabei von sich gab, verstand Clarissa zum Glück nicht.
Bill beruhigte Susan, zeigte mehr Verständnis für seine Frau, als Clarissa es jemals bei einem Mann erlebt hatte. Er hielt sie so fest umschlungen, dass sie ihn nicht mehr schlagen konnte, und wickelte sie in sämtliche verfügbare Decken, als sie immer stärker zitterte. Für einen Augenblick kehrte Ruhe ein. Susan schlief erschöpft ein, und auch ihrem Mann und Clarissa gelang es endlich, die Augen zu schließen und ein paar Stunden zu ruhen. In einem unruhigen Traum, der von einem stürmischen Schneetreiben geprägt war, traf sie Bones wieder, wie er zwischen den Bäumen hervortrat, immer noch leicht hinkend, aber kaum beeinträchtigt durch die Folgen seiner Verletzung. Seine Schnauze war blutig von einer erfolgreichen Jagd, als er sich ihr zeigte, aber in seinen Augen lagen so viel Wärme und Zutrauen, dass sie neue Kraft in sich aufsteigen fühlte und bereit für den sorgenvollen Tag war, als sie aufwachte.
Bill war bereits aufgestanden und draußen bei den Hunden, als Susan stöhnend erwachte und mit leeren Augen zur Decke starrte, bevor sich erneut die Sucht bemerkbar machte und sie zu weinen und zu zittern begann. Clarissa schreckte aus dem Schlaf und blickte besorgt zu ihr hinüber, erkannte zu ihrem Schrecken, dass Bill nicht in der Hütte war, sprang von ihrem Nachtlager und lief rasch zu ihr. »Susan! Susan! Hab keine Angst! Ich bin’s, Clarissa.« Sie legte sich neben Susan und schloss sie in die Arme, zog sie fest an sich und strich ihr tröstend über die Haare. »Es wird alles gut, Susan! Halte durch! In ein paar Tagen hast du das Schlimmste überstanden! Halte durch!«
Bill löste sie ab und versprach, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen. Er vertraute ihr, als sie ihm von dem Fischer erzählte, der den Alkohol auf diese Weise besiegt hatte. Dass er schon wenige Monate später rückfällig geworden war, verriet sie ihm nicht. Sie wusch sich und zog sich an, trat in ihrer Winterkleidung ins Freie und war froh, für einen Augenblick allein zu sein. Woher sie die Kraft nehmen sollte, sich um Susan zu kümmern, stand in den Sternen.
Als sie den Medizinmann vor seiner Hütte stehen und in ihre Richtung blicken sah, verstand sie schon besser. Das war also die gute Tat, mit der sie sich bei den Shuswap für ihre Gastfreundschaft bedanken würde. Obwohl sie schon genug eigene Sorgen hatte, versuchte sie einer alkoholkranken Indianerin zu helfen, über ihre Sucht hinwegzukommen. Reichte es denn nicht, dass sie von einem rachsüchtigen Mann verfolgt
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