Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
und frieren uns den Arsch ab. So ist es doch, Mister Schaffner?«
»Kein Grund, die Nerven zu verlieren, Mister! Wir werden Holz sammeln und vor dem Zug ein großes Feuer anzünden, daran können wir uns wärmen.«
»Ohne uns!« Der Untersetzte blickte seinen Begleiter an, der bereits dabei war, die Schneeschuhe von der Gepäckablage zu nehmen. »Wir gehen zu Fuß weiter und suchen uns ein warmes Plätzchen, bis der verdammte Zug wieder fahrtüchtig ist. Wenn wir den Heizer überholen, sagen wir dem Stationsvorsteher, was passiert ist. Und übermorgen können Sie in der Zeitung lesen, dass die Canadian Pacific mit einer schrottreifen Lok durch die Berge fährt.«
»Sie wollen die Presse informieren?«
»Das kriegen die Zeitungsfritzen schon selbst raus«, sagte der Untersetzte. Er schulterte sein Gewehr, schnappte sich seine Schneeschuhe und die Felle und ging zur Tür. Der Hagere folgte ihm, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Nachdem die Tür hinter den beiden zugefallen war, schwieg der Schaffner für einen Augenblick und blickte aus dem Fenster, als wollte er sich davon überzeugen, dass die Wolfsjäger auch wirklich das Weite suchten, dann räusperte er sich und sagte: »Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen nichts anderes mitteilen kann. Ich möchte jedoch betonen, dass der Herr im Unrecht war. Die Canadian Pacific benutzt hochmoderne Lokomotiven, die über jeden Tadel erhaben sind, aber auch bei so ausgefeilten Maschinen kann es zu unvorhergesehenen Zwischenfällen kommen. Glauben Sie mir, uns ist es genauso unangenehm wie Ihnen, bei diesem Wetter in eine solche Lage zu geraten, und ich kann Ihnen versichern, dass wir alles tun werden, um so schnell wie möglich weiterfahren zu können. Für den Augenblick möchte ich jedoch alle jungen Männer bitten, beim Holzsammeln zu helfen und ein Feuer in Gang zu bringen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit, Ladies and Gentlemen.«
»Schöne Bescherung!«, schimpfte der Spieler leise. »Und wer bezahlt mir den Anzug, wenn ich da draußen im Wald rumstapfe? Die Canadian Pacific vielleicht? Ich glaube nicht, dass Mister Whittler einen Scheck unterschreibt.«
»Weder für Sie noch für mich«, ergänzte Clarissa niedergeschlagen.
Dennoch verließ Sam Ralston den Zug. Mit hochgestelltem Mantelkragen und einem qualmenden Zigarillo zwischen den Lippen sah sie ihn zum Waldrand stapfen. Immerhin hatte er seinen Zylinder zurückgelassen. Zwischen den anderen Männern, die zum Holzsammeln aufbrachen und eher nachlässig gekleidet waren, wirkte er wie ein Gentleman, der sich in eine Versammlung von Arbeitern, Farmern oder Holzfällern verirrt hatte. Selbst im tiefen Schnee abseits der Schienen schien er sich noch eine gewisse Würde zu bewahren.
Clarissa nutzte die Abwesenheit der meisten Männer, um sich wärmer anzuziehen. Sie vertauschte ihre flachen Schuhe mit ihren festen Winterstiefeln und den kleinen Hut mit einer Pelzmütze, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. »Aus echtem Nerz«, wie sie stets betont hatte. Sie zog ihren Mantel an und schlang den schwarzen Schal um ihren Hals, für alle Fälle, wie sie dachte. Auch die anderen Frauen hüllten sich in ihre Mäntel. Obwohl ein Fahrgast das Fenster der Wolfsjäger wieder geschlossen hatte, wurde es bereits empfindlich kalt in dem Wagen, oder zumindest kam es den Passagieren so vor.
Auch das Fauchen der Lokomotive war verstummt, und in ihrem Wagen herrschte eine beinahe gespenstische Stille. Außer ihr waren nur das ältere Ehepaar und zwei Frauen, deren Männer beim Holzsammeln halfen, im Wagen zurückgeblieben. Niemand sagte etwas, alle hingen ihren Gedanken nach und realisierten wohl erst allmählich, welche Strapazen die Worte des Schaffners bedeuteten. Noch war es im Zug einigermaßen warm, aber die Heizung arbeitete bereits nicht mehr, und schon bald würde eisige Kälte im Wagen herrschen. Sie würden kein Auge zutun, wenn die neue Lokomotive tatsächlich erst nachts oder am nächsten Morgen eintraf, und zitternd um das Feuer herumstehen, bis die Rettung kam. Die Alternative war ein fünfstündiger Fußmarsch durch die verschneite Wildnis, den sich keiner außer dem Heizer und den Wolfsjägern zutraute, nicht einmal die jungen Männer. Der Zwischenfall mit dem Wolf hatte die meisten Passagiere beunruhigt.
Die nächsten Stunden vergingen quälend langsam. Das Schneetreiben hatte etwas nachgelassen, aber der Wind blies unvermindert stark und verfing sich zwischen den Wagen und in den Baumkronen des nahen
Weitere Kostenlose Bücher