Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
River, der in dem weiten Tal träge dahinfloss, beruhigte sie allmählich. Vielleicht war es ja nicht der Wolf, sondern allein ihre prekäre Lage gewesen, die sie dazu gebracht hatte, die beiden Männer anzuschreien. Ihr Leben hatte sich von einem Tag auf den anderen geändert. Aus einer jungen Frau, die einigermaßen zufrieden in Vancouver gelebt und ihr Auskommen gehabt hatte, war eine rastlose Wanderin geworden, die vor dem Gesetz auf der Flucht war und keine Ahnung hatte, was die Zukunft bringen würde. Sie war es nicht gewohnt, ständig vor Verfolgern auf der Hut zu sein.
Mit schleifenden Rädern legte sich der Zug in eine scharfe Linkskurve. Die Schienen führten vom Fluss weg in ein lang gestrecktes Tal, das zu beiden Seiten von schroffen Hügeln begrenzt war und sich in den Ausläufern gewaltiger Berge verlor. Bedrohlich ragten die Gipfel aus dem Land empor. Der Wind kam aus Norden und blies hier ungehindert, trieb feuchte Schneewehen an den Fenstern vorbei und verfing sich heulend zwischen den Wagen. Fauchend und schnaufend bahnte sich die Lokomotive einen Weg nach Osten.
Dass die Anstrengungen der Lokomotive schwächer wurden, merkte Clarissa erst, als das Fauchen und Schnaufen nicht mehr regelmäßig kam und die Wagen langsamer fuhren. Sie blickte erstaunt aus dem Fenster. Mitten in dem stürmischen Flockenwirbel blieb der Zug auf offener Strecke stehen.
6
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Clarissa verwirrt. Sie blickte aus dem Fenster und sah den Schaffner aussteigen. Er trug einen Mantel über seiner Uniform, aber immer noch seine flachen Schuhe, und fluchte unübersehbar, als er bis über die Knöchel im Schnee einsank. Er lief zur Lokomotive vor.
»Auch das noch!«, schimpfte der untersetzte Wolfsjäger. Er schob das Fenster hoch und kniff die Augen gegen das Schneetreiben zusammen. »Und ich dachte, ich könnte mir heute Nacht von Betty-Sue den Arsch wärmen lassen.«
Der Hagere fand seine Worte nicht zum Lachen. »Ich hoffe, die Lok hat nicht schlappgemacht. Soll schon ein paarmal in dieser Gegend vorgekommen sein. Ich hab keine Lust, die ganze Nacht in diesem Zug zu verbringen.«
»Es geht sicher gleich weiter«, beruhigte der ältere Herr seine Ehefrau, die ihre Haare wieder zu einem Knoten gebunden und ihren Hut festgesteckt hatte. »Ich nehme an, es stehen wieder Elche auf den Gleisen. So ist es uns schon einmal gegangen, weißt du noch? Als wir deine Schwester besucht haben.«
Der Spieler sagte nur: »Das sieht nicht gut aus.«
Clarissa drückte ihre Wange gegen das Fenster und sah den Schaffner zurückkommen und in einen der Wagen steigen. Seine Miene verhieß nichts Gutes. Wenig später erschien er in ihrem Wagen und verkündete: »Tut mir leid, meine Damen und Herren, aber wir haben leider eine technische Störung. Wir werden uns wohl auf einen längeren Aufenthalt einstellen müssen.«
»Technische Störung?«, fuhr ihn der Untersetzte an. »Reden Sie Klartext, Mann! Was soll das heißen, Mann? Hat die Lok den Geist aufgegeben?«
»Ein Defekt«, sprach der Schaffner weiter in Rätseln. Als er sah, wie der Untersetzte aufstand und Anstalten machte, auf ihn loszugehen, fuhr er rasch fort: »Irgendwas mit der Dampfleitung und den Ventilen. Genau weiß ich es auch nicht. Eine Reparatur würde zu lange dauern, sagt Joe … der Lokführer, selbst wenn wir die Ersatzteile hätten. Deshalb hat er seinen Heizer zu Fuß zur nächsten Station geschickt. Dort gibt es einen Telegrafen. Wir …« Er schluckte verlegen. »Wir werden wohl eine neue Lok brauchen … Leider.«
»Und wie lange dauert das?«, fragte der ältere Herr besorgt.
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Sir. Bis zur nächsten Station sind es, nun ja … ein paar Meilen.« Er schluckte wieder. »Der Heizer ist ein kräftiger Mann, und über die Gleise kommt er sicher einigermaßen schnell voran, aber vier, fünf Stunden wird er brauchen. Und bis die neue Lok kommt …«
»Woher kommt sie denn, die Lok?«, unterbrach ihn der Untersetzte. Seine Laune war schon lange nicht mehr die beste. »Aus Vancouver oder Calgary?«
Der Schaffner errötete. »Das kommt drauf an, Mister …«
»Aber es dauert auf jeden Fall die ganze Nacht! Stimmt doch, oder?«
»Äh … Das könnte durchaus sein.«
»Dann rücken Sie doch endlich mit der vollen Wahrheit heraus! Was ist mit der Heizung? Wenn die Dampfleitung defekt ist, funktioniert auch die Heizung nicht mehr, hab ich recht? In ein paar Stunden sitzen wir hier alle in der Kälte
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