Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
hatte. So wie es ohne Leid keine Freude gab, konnte es kein Leben ohne Tod geben.
Sie staunte über ihre Gedanken und musste einräumen, dass sie für jede Überlegung dankbar war, die sie davon abhielt, mehr über Alex und sich nachzudenken. Sie fühlte sich von dem Fallensteller angezogen wie noch von keinem anderen Mann, den sie bisher kennengelernt hatte. Und obwohl er auf eine wilde Art attraktiv und sehr männlich aussah und sich wahrscheinlich auch in Vancouver jede Frau nach ihm umgedreht hätte, vorausgesetzt, er hätte seine Lederkleidung gegen städtische Kleidung ausgetauscht, wunderte sie sich darüber, sich ausgerechnet in ihn verliebt zu haben. Noch auf ihrem Ausflug hatte sie darüber nachgedacht, ob sie es fertigbringen würde, auf die Zivilisation zu verzichten und mit ihm in die Wildnis zu ziehen, und schon wenig später hatte sie das getan, was sie eigentlich keiner anderen Frau zugetraut hätte, ausgenommen einer Indianerin: Sie hatte sich ohne zu zögern der Anforderung gestellt, die der Unfall von ihr gefordert hatte. Im Alleingang hatte sie ihm auf den Trail geholfen, die Hunde von ihren Leinen befreit und den Schlitten über die Böschung gezogen. Als ob sie jahrelang nichts anderes getan hätte. So benahm sich keine Frau, die das Leben in der Wildnis verabscheute. Eine solche Frau wäre weinend zusammengebrochen und in der nächtlichen Kälte erfroren oder hätte spätestens an diesem Morgen das Weite gesucht, selbst wenn sie damit die Gefahr heraufbeschworen hätte, einige Jahre im Gefängnis verbringen zu müssen.
Sie ging zu den Huskys, die schon ungeduldig warteten, verteilte ihre Gunst wie immer gleichmäßig auf alle Hunde, Smoky bekam vielleicht mal wieder ein bisschen mehr ab, und schüttete den Eintopf in ihre Fressnäpfe. Als einer der Hunde laut jaulte, weil er angeblich zu kurz gekommen war, wanderten ihre Gedanken unwillkürlich zu den Wölfen, denen sie im Tiefschnee begegnet war. Hatte sie dem mächtigen Wolf, der plötzlich vor ihr aufgetaucht war, wirklich gegenübergestanden, oder hatte er nur in ihrer Einbildung existiert, in der Benommenheit und Verwirrung nach dem Sturz? Und war Bones tatsächlich gekommen, um sie vor dem Tod zu bewahren? Gab es ihren geheimnisvollen Retter wirklich?
Sie kehrte ins Haus zurück und kochte die Brühe für Alex. Es machte ihr Spaß, für ihn zu sorgen, ihn zu bemuttern und ihm den Haushalt zu führen. Auf seinem Bettrand zu sitzen und ihm mit einem feuchten Lappen den Schweiß von der Stirn zu wischen, wenn seine Kopfschmerzen zu stark wurden, und frisches Holz in die Flammen zu werfen, wenn das Feuer im Herd heruntergebrannt war. Alles Pflichten, die eine Ehefrau übernommen hätte, und doch etwas, das sie auf geheimnisvolle Weise zufriedenstellte. Nach dem unsteten Leben, das sie nach dem Tod ihrer Eltern geführt hatte, und nachdem sie stets bei fremden Leuten gewohnt und niemals ein Zuhause gehabt hatte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder irgendwo dazugehörig, auch wenn es nur für kurze Zeit war. Denn irgendwann in naher Zukunft würde sie ihn verlassen müssen.
Normalerweise lernten sich Liebende außerhalb eines gemeinsamen Heims kennen und lebten in einem sorgenfreien Paradies voller rosaroter Wolken, bevor sie zusammenzogen und der Alltag mit seinen Anforderungen begann. Bei ihnen war es umgekehrt. Sie lebten bereits jetzt zusammen und hatten sich die alltäglichen Pflichten schon geteilt, bevor sie ihre Zuneigung füreinander entdeckt hatten. Mit dem Unterschied, dass sie vielleicht niemals ein gemeinsames Heim besitzen würden. Nicht gerade die Reihenfolge, die ihre Mutter gutgeheißen hätte, und selbst, wenn sie jemals heiraten sollten, würde der Pfarrer, der ihren Bund besiegeln würde, diese Zeit diskret verschweigen.
Der Tag verlief ereignislos und schien doch von besonderer Bedeutung für beide zu sein, bestand nach ihrem Gefühlsausbruch auf der Waldschneise doch eine neue Vertrautheit zwischen ihnen, die jeden Handgriff und jede Geste in einem neuen Licht erscheinen ließ. Aus der anfänglichen Schüchternheit, die sie nach ihrer Rückkehr empfanden, und die bis nach dem Mittagessen anhielt, fanden sie wenig später wieder zusammen, als sie auf seinem Bettrand saß und vorsichtig über die Beule an seinem Hinterkopf strich.
Wie von selbst schloss sich seine Hand um ihr Handgelenk, und bevor sie sich versah, lag sie auf ihm und erwiderte seinen fordernden Kuss, versank in dem rosaroten Taumel,
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