Christopher Ross, Clarissa – Im Herzen die Wildnis
ungeachtet der Verfolger, die ihr dicht auf den Fersen sein mussten. Jetzt galt es nur noch, ihre letzten Kräfte zu mobilisieren und Frank Whittler und dem Indianer so schnell wie möglich zu entkommen. Ein beinahe unmögliches Unterfangen, es sei denn, ihre Verfolger hätten sie nicht bemerkt, doch an ein solches Wunder glaubte sie nicht.
Die Angst verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Sie schaffte es sogar, zwischen zwei Hügelkämmen vom Trittbrett zu springen und den Schlitten anzuschieben. Die Hunde ließen sich nicht lumpen, verschärften das Tempo und jagten den nächsten Hügelkamm hinauf, rannten durch einen Fichtenwald, der ihr für eine Weile die Sicht nahm und sie erneut zwang, sich nur auf die Tiere zu verlassen. »Nur weiter!«, drängte sie. »Sie dürfen uns nicht erwischen!«
Viel zu spät bemerkte sie den ausladenden Ast einer mächtigen Fichte, der so tief über den Trail ragte, dass sie sich nicht mehr ducken konnte, mit dem Kopf dagegenprallte und im hohen Bogen vom Schlitten geschleudert wurde. Sie stürzte in den knöcheltiefen Schnee, streifte einen Baumstamm mit dem Hinterkopf, überschlug sich ein paar Mal, verfing sich mit dem rechten Fuß in einer Wurzel, schrie vor Schmerzen auf und blieb unterhalb des Hügels liegen, schwer verletzt und halb bewusstlos.
Die Hunde rannten weiter und verschwanden mit dem Schlitten in der Nacht.
25
Als Clarissa aus ihrer Benommenheit erwachte, war es bereits Morgen. Sie lag auf dem Rücken, zur Hälfte vom tiefen Schnee bedeckt, und blickte zu den Baumkronen empor. Es hatte aufgehört zu schneien, sogar ein Stück blauer Himmel war zu sehen. Ein schwacher Trost für sie und kein Mittel gegen den unerträglichen Schmerz, der ihren ganzen Körper beherrschte.
Ihr Kopf brummte, und als sie versuchte, ihn anzuheben, wurde ihr schwindlig und so übel, dass sie nahe daran war, sich zu übergeben. Entmutigt ließ sie ihn wieder sinken. Sie atmete ein paar Mal durch und versuchte es noch einmal, schaffte es bis auf die Ellbogen und spürte einen stechenden Schmerz in ihrem Rücken, der sie erneut zurückfallen ließ. Sie bewegte ihre Arme und Hände, stellte fest, dass ihr rechter Oberarm leicht lädiert war, bewegte den linken Fuß und schrie vor Schmerzen laut auf, als sie den rechten bewegte und merkte, dass er angebrochen oder verstaucht war.
»Billy! Smoky!«, wollte sie rufen, doch es kam nur leises Krächzen über ihre Lippen, zu lange lag sie schon im tiefen Schnee. »Billy! Komm zurück!«
Doch ihre Huskys waren längst über alle Berge, das wusste sie. Nicht umsonst hatte Alex sie vor dieser Gefahr gewarnt. Wenn eine Musherin oder ein Musher vom Schlitten fiel, hielten die Huskys nicht an. Sie rannten weiter, bis ihnen die Puste ausging oder sie irgendjemand aufhielt. Oder wenn der Schlitten umfiel und sich die Leinen um einen Baum wickelten. Auch ein Grund dafür, warum ein Musher immer eine kleine Notration in seiner Anoraktasche mitführte, etwas Schokolade oder Trockenfleisch, Streichhölzer, vielleicht sogar einen Revolver, mit dem man sich nicht nur gegen wilde Tiere verteidigen, sondern auch einen Signalschuss abgeben und Hilfe herbeiholen konnte. In ihrer Panik hatte sie nicht daran gedacht, auch wenn ihr ein Revolver in der Anoraktasche wenig genützt hätte, denn damit hätte sie nur Frank Whittler und den Indianer auf sich aufmerksam gemacht.
Sie wandte den Kopf und spürte wieder den Schwindel und die Übelkeit, stöhnte vor Schmerz und schloss die Augen. Es dauerte einige Minuten, bis sie wieder einigermaßen bei Sinnen war. Als sie sich stark genug fühlte, um ihre Augen wieder zu öffnen und zum Hügelkamm emporzublicken, schien dieser meilenweit entfernt, und weder ihre Hunde noch ihr Schlitten waren zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie nicht einmal gemerkt, dass sie gestürzt war. Es war alles so blitzschnell gegangen, dass sie nicht mal Zeit zum Schreien gehabt hatte. Von einer Sekunde auf die andere war es schwarz um sie geworden.
Das einzig Gute an ihrer Situation war, dass auch Frank Whittler nicht gemerkt hatte, dass sie vom Schlitten gefallen war, sonst wäre er doch längst bei ihr, und sie hätte vielleicht noch ganz andere Schmerzen zu erleiden. Anscheinend verfolgten sie immer noch ihren Schlitten. Sie musste trotz ihrer großen Schmerzen lächeln. Wenn ihre Hunde durchgingen, würde es auch einem erfahrenen Musher wie dem Indianer nicht gelingen, sie einzuholen. Oder gab es die Verfolger gar nicht? War sie schon so müde
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