Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
verdickter Borke wand sich über den Stamm. »Ein Blitzschlag«, murmelte Renn. »Der Baum hat trotzdem überlebt. Vielleicht bringt uns das Glück.«
Das können wir brauchen, dachte Torak. Sein Plan war einfach, und falls alles klappte, würde ihre List die Auerochsen nach Norden führen, weg vom Schwarzwasser. Dann konnten sie unbemerkt ans andere Ufer gelangen.
Falls alles klappte. Er zweifelte immer mehr daran.
Er legte die Hände zusammen und schob Renn am Stamm der Linde hoch. Dann ging er in die Hocke und bat Wolf, in der Nähe zu bleiben und erst im Hell zurückzukommen – und außerdem vor Fallen auf der Hut zu sein.
Wolfs Atem wärmte sein Gesicht, als er ihm mit der Schnauze behutsam über die Augenlider strich. Pass auf dich auf, Rudelgefährte , sagte er.
Er vertraute ihm vollkommen. Und Torak führte ihn in schreckliche Gefahr.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog Torak sein Medizinhorn aus dem Beutel, schüttete ein wenig Erdblut heraus und tupfte es auf Wolfs Stirn, wo er es nicht ablecken konnte. Pass auf dich auf, Rudelgefährte, sagte er. Dann legte er die Hand auf die rissige Lindenborke und bat den Wald, Wolf zu beschützen.
Die Blitznarbe war breiter als Toraks Handgelenk. Er kletterte daran hoch wie an einem Seil. Er spürte deutlich, dass der Baum ihre Gegenwart wahrnahm, und er bat ihn, sie nicht zu verraten. Unter sich sah er Wolfs Silberaugen leuchten, dann verschwand sein Gefährte in der Dunkelheit.
Torak und Renn kauerten sich in eine Gabelung aus drei starken Ästen; die Schlafsäcke ließen sie zusammengerollt und vertrauten darauf, dass ihre Lederkleidung sie warm halten würde. »Wir warten bis zum frühen Morgen«, flüsterte Torak. »Dann ist die Wahrscheinlichkeit geringer, gesehen zu werden.« Allerdings würde eine Flucht schwieriger sein, falls man sie doch entdeckte, aber darüber verlor keiner der beiden ein Wort.
Renn zeigte auf die hohen Fichten nördlich des Auerochsenlagers. Die höchsten Äste zeichneten sich wie mächtige Nadeln vor dem besternten Himmel ab; sie würden morgen früh auch die aufgehende Sonne einfangen. Renn zog einen vorbereiteten Pfeil aus ihrem Köcher.
Beim Zielen spannten sich ihre Züge vor Konzentration. In der Verkleidung sah sie so fremd aus, als sei sie zu einem Teil des Großen Waldes geworden, dachte Torak.
Der Bogen knarrte. Sie ließ ihn sinken. Die Nacht war zu ruhig. Womöglich hörten die Auerochsen das Schwirren der Sehne.
Endlich brachte ein Windhauch die Blätter zum Rascheln. Renn zielte und schoss. Der Peil blieb in einer Fichte stecken, und ein Bündel baumelte von dem Seil, das sie am Schaft befestigt hatte. Renn legte abermals einen Pfeil ein und traf einen anderen Baum, weiter östlich. Sie schoss noch zwei Pfeile ab und wartete dabei jedes Mal, bis eine Brise das Geräusch des Abschusses übertönte.
Nun mussten sie sich bis zum Morgen gedulden und hoffen, dass der Plan aufging.
Einen zweiten hatten sie nämlich nicht.
In der Dunkelheit flammte ein Feuer auf.
Renn packte Torak am Arm. Das Lager der Auerochsen war näher, als sie vermutet hatten.
Von hoch oben in ihrer Linde sahen sie große Gestalten, die stumm und emsig wie Ameisen hin und her liefen. Etliche hatten sich um einen Baum in der Lagermitte versammelt und strichen eine dunkle Flüssigkeit auf die unteren Äste und Zweige. Zwei knieten sich hin und weckten ein zweites Feuer auf.
Torak wunderte sich. Wozu ein neues Feuer aufwecken, wenn man nur einen brennenden Ast aus dem anderen zu holen brauchte? Sie benutzten nicht einmal Feuersteine. Ein Mann drehte einen Stock zwischen den Händen und bohrte ihn dabei in ein Holzstück, das er mit einem Fuß am Boden festhielt, während er mithilfe einer Querstange, die er zwischen die Zähne geklemmt hatte, den Bohrer gerade hielt. Es funktionierte. Rauch stieg kräuselnd auf. Ein zweiter Mann fütterte die Flammen zuerst mit Bartmoos, dann mit Kienholz. Als das Feuer vollständig erwacht war, knieten alle nieder und verneigten sich so tief, dass ihre Stirnen den Boden berührten.
Weitere Auerochsen tauchten aus dem Wald auf. Torak zählte fünf, sieben, zehn. Jeder Mann – es waren ausschließlich Männer – trug eine Axt, zwei Messer und einen Schild: einen etwa armlangen Holzkeil, dessen zugespitztes Ende sie in die Erde rammten, ehe sie sich die Netzhauben von den lehmverschmierten Schädeln zogen. Seltsame grobe und wulstige Narben entstellten ihre Gesichter.
Torak brach der kalte Schweiß
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