Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
hatte, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Er krümmte sich unter krampfhaften Zuckungen und das Seil schnitt tief in seinen Oberkörper ein. Plötzlich bekam er Angst. Vielleicht war es besser, Renn zu wecken. Aber der Lederriemen saß zu stramm, er konnte sich nicht bewegen.
Die Krämpfe kamen immer schneller, sie saugten wie eine mächtige Woge an seinen Seelen. Er öffnete den Mund, um nach Renn zu rufen …
… und seine Stimme war wie das Ächzen der Rinde und das Knarren der Äste. Seinen Zweigfingern war das kühle Mondlicht und die heulende, ungestüme Liebkosung des Windes vertraut, seinen Ästen das Kratzen der Wespe und das Gewicht zweier schlafender jungen Menschen: ein Junge und ein Mädchen. Tief in der Erde wühlten die Maulwürfe und die weichen blinden Würmer an seinen Wurzeln, und alles war gut, denn er war ein Baum . Er genoss die tosende, wilde Nacht.
Eins mit dem Baumblut bat der letzte Rest von Geist, der noch Torak war, den Baum, ihm zu verraten, wo Thiazzi war. Die Eibe seufzte und hob ihn hinaus in die Nacht.
Hilflos wie ein Blatt im Wind wurde Torak in einem gewaltigen Sog von Stimmen durch den Wald gewirbelt, von Eibe zu Stechpalme, von Setzling zu Schössling zu mächtiger Eiche, schneller als ein Wolf läuft oder ein Rabe fliegt. Zu weit, dachte er. Du findest nie mehr zurück!
Als er endlich ruhiger dahinglitt, erkannten seine Zweigfinger die Eiswinde, die von den Hohen Bergen herabbrausten. Er war im goldenen Baumblut einer anderen Eibe. Diese war unvorstellbar alt, älter als der Wald selbst. Ihre Äste durchbohrten die Sterne, ihre Wurzeln spalteten das Gestein und hielten die Dämonen in der Anderen Welt gefangen. Ihre Glieder beschirmten Eule und Marder, Eichhörnchen und Fledermaus. Für die Geschöpfe, die in ihr lebten, war sie die Welt, aber für die Große Eibe war ihr Leben flüchtig wie ein fallendes Blatt. Dieser Baum würde immer noch sein, wenn sie längst nicht mehr waren.
Torak, der dies alles verstand und spürte und sich beinahe darin verlor, fühlte mit einem Mal die Krallen eines Tokoroths auf seiner Rinde. Er hörte die Dämonen gierig nach jenem feurigen Stein heulen, der auf dem Weg zu ihnen war. Flammenzungen versengten seine Äste. Er spürte, wie der Eichenschamane ihn umtanzte und Zaubergesänge anstimmte.
Der Eichenschamane reckte den Arm. Ich bin die Wahrheit, ich bin der Weg. Ich bin der Bändiger des Feuers. Ich bin der Gebieter des Waldes!
Der Wind heulte stärker, auch die Stimme der Großen Eibe schwoll an. Torak ging in einem Meer aus Stimmen unter, alle Bäume des Großen Waldes erhoben sich, vereinigten sich zu einem alles verschlingenden Brüllen, rissen ihn auseinander …
»Torak!«, flüsterte Renn. »Torak! Wach auf!«
Er drehte den Kopf zur Seite, aber sie erkannte an seinem Blick, dass er sie nicht sah. Seine Augen waren leer und blind, ohne Seelen.
Ohne Seelen . Er hatte seine Seele auf Wanderschaft geschickt.
Sie war erwacht, als er sich aus seinem Seil herausgewunden hatte. Jetzt kniete er schwankend auf dem Ast und murmelte leise vor sich hin. Renn hatte schreckliche Angst, er könne hinabstürzen und sich das Genick brechen.
Vorsichtig schob sie sich um den Stamm herum und neben ihn. Er war noch zu weit weg, deshalb hielt sie unschlüssig inne. Sie hatte Angst, ihn zu erschrecken.
Nach langem Schweigen sprach er endlich, mit sonderbar fremder Stimme. »Ich bin die Große Eibe«, sagte er zu dem brausenden Wind. »Ich bin älter als der Wald. Ich spross zwischen den Wurzeln des Ersten Baumes. Ich war ein Setzling, als der letzte Schnee der Großen Kälte mit der Erde verschmolz; ich war ein Schössling, als die große Flut kam. Nie hat mir der Schlaf die Lider geschlossen, aber ich habe erfahren, was Zorn bedeutet…«
Renn wusste nicht aus noch ein. Sie war in der Schamanenkunst nicht bewandert genug, um seine Seelen zurückzurufen. Sie flehte den Clanhüter um Beistand an und streckte ihre Hand aus.
Torak erhob sich und ging weiter auf dem Ast entlang.
Ein jäher Schmerz weckte ihn: Ein Rabenschnabel zerrte an seinem Ohrläppchen. Ihm war schwindelig. Der Wind blies ihm ins Gesicht, in seinem Kopf brüllten die Bäume.
»Torak!« Renns Stimme tönte von weither. »Torak, sieh mich an. Nur mich. Rühr dich nicht vom Fleck !«
Der Rabe flog von seiner Schulter und Torak wankte hin und her. Der Boden unter ihm schwankte.
Nein, nicht der Boden. Der Ast . Er stand am Ende des Astes und seine Hände griffen ins
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