Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
Vom Netzwerk:
Leere.
    »Sieh mich an!«, befahl Renn. Sie kroch den Ast entlang, umschlang mit einer Hand das Seil, das am Stamm befestigt war, und streckte ihm die andere entgegen. » Schau auf keinen Fall nach unten .«
    Prompt senkte er den Blick. Eine schwindelerregende Tiefe. Dort unten hockte etwas auf den schlangenähnlichen Wurzeln. Er sah aschfarbenes Haar und ein bleiches, zu ihm emporgerecktes Gesicht. Er schaukelte.
    Renns Stimme brachte ihn wieder zu sich. »Torak. Komm – zu – mir.« Ihre dunklen Augen hielten seinen Blick fest.
    Er sank auf die Knie und kroch zu ihr.

    »Und du kannst dich wirklich an überhaupt nichts mehr erinnern?«, fragte Renn.
    Torak schüttelte den Kopf. Er zitterte und sah krank aus. So schlimm war es noch nie gewesen. Sie hatte nicht mehr tun können, als ihm vom Baum herunterzuhelfen.
    »Nicht einmal, dass du das Seil aufgeknotet hast und auf dem Ast entlanggekrochen bist? Gar nichts?«
    »Nichts«, murmelte er dumpf.
    Endlich war es ihr gelungen, den Wassersack aufzubinden. »Hier. Danach geht es dir bestimmt besser.«
    Er gab keine Antwort, sondern saß nur gegen den Stamm gelehnt da und starrte in die Äste der Eibe.
    Der Wind hatte sich gelegt, die Morgendämmerung nahte. Rip und Rek hockten in den unteren Zweigen und hielten ein Verdauungsschläfchen. Renn hatte sich mit einer tüchtigen Portion Pferdefleisch bei ihnen bedankt. Sie bezweifelte allerdings, dass Torak die Raben wahrnahm. In seinen Augen glomm ein sonderbares gebrochenes Licht. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass sich die Farbe seiner Augen verändert hatte. Das Hellgrau war nicht mehr so rein, sondern in der Tiefe mit winzigen grünen Sprenkeln durchsetzt.
    »Ich habe ihn gesehen«, sagte er. »Es war Thiazzi. Er ist in der Nähe der Berge. Er hat irgendwelche Zauberformeln gesprochen. Er glaubt, dass er sich den Wald untertan machen kann.« Er drehte sich um, ließ sich auf alle viere nieder und übergab sich.
    Anschließend sank er entkräftet gegen den Stamm. »Ich habe gedacht, ich würde nie wieder zurückkommen.«
    »Wie meinst du das?«
    Er schloss die Augen. »Wenn man in einen Raben überwechselt… oder einen Bär oder Elch … dann bleibt man in diesem einen Geschöpf. Aber die Bäume sind nicht voneinander getrennt. Für sie ist es einerlei, ob man denkt, spricht oder in sie überwechselt. Von Baum zu Baum, von Esche zu Birke zu Stechpalme, eins geht einfach in das andere über. Es geht unvorstellbar schnell und führt einen unvorstellbar weit.« Er presste die Hände an die Schläfen. »Und man hört so viele Stimmen!«
    Renn blieb nichts anderes übrig, als hilflos zuzusehen. Sie fand es besonders beunruhigend, dass er sich diesmal selbst bewegt hatte, während seine Seele auf Wanderschaft gewesen war. Das war noch nie zuvor passiert.
    Sie wusste, dass Menschen mitunter im Schlaf wandelten, wenn ihre Namensseele während eines Traumes entschlüpfte. Dann sucht der Körper nach der herumirrenden Seele, und meistens finden die beiden wieder zueinander, bevor einer von ihnen den Unterschlupf verlassen hat. Aber sie hatte keine Ahnung, was mit Torak geschehen war.
    »Warum hast du das gemacht, Torak? Wieso hast du ausgerechnet jetzt deine Seele auf Wanderschaft geschickt?«
    Er schlug die Augen auf. »Um Thiazzi zu finden.« Er zögerte. »Ich habe ihn gesehen, Renn. Manchmal sehe ich nur eine helle Haarsträhne, manchmal steht er direkt vor mir. Er ist völlig durchnässt. Er klagt mich an.«
    Ein kalter Schauer überrieselte sie. Sie konnte an seiner Miene ablesen, dass er von Bale sprach.
    Sie dachte an den Tag der Beerdigungszeremonie, als Torak am Strand gestanden und Bales Namen gebrüllt hatte. Als wollte er seinen Rachegeist geradezu herausfordern . »Warum sollte er dich anklagen?«, fragte sie.
    Er schlug den Kopf so heftig gegen den Stamm, dass es schmerzen musste. »Wir hatten Streit. Dann bin ich alleine weg.«
    Ach, Torak. »Wes- … weswegen habt ihr euch denn gestritten?«
    Ohne sie anzusehen, sagte er. »Er wollte dich fragen, ob du bei ihm bleibst.«
    Renn spürte, dass sie knallrot wurde.
    »Er wollte gar nicht mit mir streiten«, fuhr Torak fort. »Es war meine Schuld. Ich habe ihn allein gelassen, als er Wache hielt. Deswegen hat er sterben müssen.«
    Die Vögel erwachten. Der Tau glitzerte auf den dicken Farnspitzen, die sich wie Raupen eingerollt hatten. Eine Hummel brummte zwischen den Wildblumen.
    So viel Leid, dachte Renn. Bale ist tot. Sein Clan trauert um ihn.

Weitere Kostenlose Bücher