Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
dass es sich dabei um einen Fetzen aus Groß Schwanzlos’ altem Überpelz handelte.
Einer der Hunde beschnüffelte den Pelz, um erneut Witterung aufzunehmen.
Wolf verstand jetzt. Der Pelz half den Hunden, seinen Rudelgefährten zu finden. Er musste dem Jungen den Pelz wegnehmen. Dann würden sie Wolf jagen und Wolf würde sie von Groß Schwanzlos wegführen.
Wolfs Klauen krümmten sich vor Aufregung. Er spürte die Kraft in seinen Schultern und Flanken und wusste mit überschäumender Freude, dass er schnellere Sprünge machen konnte als der schnellste Hund.
Behutsam eine Pfote vor die andere setzend, schlich er langsam vorwärts.
Kapitel 5
Der durchdringende Geruch von Erde und Verwesung stieg Torak in die Nase. Die winzige Höhle erinnerte ihn an die Schädelstätte der Raben.
Denk nicht daran. Denk daran, dass du am Leben bleiben willst.
Das Gekläff der Hunde war unterdessen verklungen. Was Wolf auch unternommen haben mochte, es hatte seine Wirkung offenbar nicht verfehlt. Trotzdem wünschte sich Torak, dass er zurückkommen würde, ermahnte sich jedoch, dass Wolf ihn jederzeit finden konnte, wenn er das wollte.
Er zwang die steifen Beine dazu, sich zu bewegen, kroch aus der Höhle und kletterte weiter den Hang hinauf. Die Steine waren schlüpfrig vom Regen, und er ging auf nackten Sohlen, bis er seine Füße nicht mehr spürte.
Ursprünglich hatte er vorgehabt, vom Rabenlager aus eine falsche Fährte Richtung Norden zu legen, umzukehren, und dann den Weg zu den Tälern im Süden einzuschlagen, wo er früher mit Fa gelebt hatte. Stattdessen hatte Aki ihn dazu gezwungen, einen großen Bogen flussauf- und wieder flussabwärts um den Grünen Fluss zu laufen. Nun befand er sich irgendwo in der Nähe des Zackenkamms, unweit der Stelle, wo er das Rentiergeweih gefunden hatte.
Toraks Seiten schmerzten vor Anstrengung und die neue Tätowierung auf seiner Stirn pochte. Als er eine Weide entdeckte, murmelte er eine rasche Entschuldigung und schälte einen Streifen Rinde ab. Er zerkaute sie und schmierte den brennenden Brei auf die Wunde, schnitt sich einen Lederstreifen aus dem Wams und band ihn wie ein Stirnband über den heilenden Umschlag. Der Verband sorgte dafür, dass die Medizin einwirken konnte, und verbarg außerdem das Bannzeichen.
Er zuckte zusammen, als ihm plötzlich einfiel, dass er dieselbe Medizin in jener Nacht benutzt hatte, als Fa getötet worden war. Einen Herzschlag lang hatte er das Gefühl, alles, was seither geschehen war – dass er Wolf gefunden und Renn und Fin-Kedinn kennengelernt hatte –, sei nur ein Traum. Mit einem Mal fühlte er sich in die Vergangenheit zurückversetzt, war ganz allein und auf der Flucht.
Am Fuß des Abhangs stand ein dichter Wald aus Eichen, Birken und Kiefern. Durch das Dickicht erhaschte er einen Blick auf den in weiter Ferne glitzernden Axtknauffluss. Jetzt, zur Zeit der Lachswanderung, tummelten sich viele Kanus auf dem Flusslauf, und er tat gut daran, dem Ufer nicht zu nahe zu kommen.
Im Schutz des Unterholzes machte er sich durch Weidengestrüpp und hüfthohen Farn an den Abstieg. Ihm war schwindelig vor Hunger, aber er hatte keine Vorräte, keine Axt und bloß drei Pfeile. Er musste unbedingt etwas zu sich nehmen, bevor er zu schwach war, um weiterlaufen zu können. Vielleicht gelang es ihm, ein verborgenes Tal zu finden, wo er auf sich allein gestellt überleben konnte. Irgendwie musste er das Zeichen der Seelenesser loswerden und den Clan dazu zwingen, ihn wieder aufzunehmen …
Eine gewaltige Aufgabe. Das würde er nie und nimmer schaffen.
Mit einem Mal fiel ihm ein, was Fin-Kedinn im letzten Mond gesagt hatte, als sie gemeinsam Rinde für ein Fischnetz gesammelt hatten. Der Tag war ebenso trostlos gewesen wie der heutige, und Torak hatte entmutigt auf die schlüpfrigen Weidenstöcke gestarrt und sich gefragt, wie um alles in der Welt er je ein Netz daraus knüpfen sollte.
»Denk nicht an das Netz«, hatte Fin-Kedinn zu ihm gesagt. »Nimm einen einzelnen Weidenstab und schäle die Rinde ab. Das kannst du doch, oder?«
»Natürlich.« Wie man Rinden abschält, hatte man Torak schon beigebracht, ehe er groß genug war, ein Messer in der Hand zu halten.
»Dann fang einfach an«, sagte der Rabenhüter. »Einen Schritt nach dem anderen. Nimm dir immer nur einen Zweig. Denk nicht an das Netz.«
Während Torak spürte, wie der Regen allmählich durch die Rehlederkleidung drang, nickte er. Schritt für Schritt. Nahrung. Unterschlupf. Ja. Für
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