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Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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alles andere war morgen auch noch Zeit.
    Er entdeckte einen Elchwechsel, der sich gut versteckt in östlicher Richtung an der Talflanke entlangschlängelte. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und die Sonne schien.
    Während er dem Elchwechsel folgte, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er zwar die Raben verloren hatte, aber nicht den Wald. »Wald«, flüsterte er. »Ich habe dich immer geehrt. Hilf mir dabei, zu überleben.«
    Der Wald schüttelte die Regentropfen von den Zweigen und riet ihm, sich gründlich umzusehen.
    Sein Blick fiel auf eine stämmige, knospende Birke mit noch halb zusammengerollten Blättern ein Stück abseits des Wechsels. Der Baum würde ihn mit einem raschen, kräftigenden Trunk versorgen. Warum hatte er nicht früher daran gedacht.
    Nachdem er den Baum um Erlaubnis gebeten hatte, schnitt er mit dem Messer ein flaches Loch in die Borke unten am Stamm. Baumblut quoll hervor. Mit einem hohlen Holunderstängel, den er in die Wunde steckte, fing er das kostbare Nass auf und sammelte es in einem Trichter aus Birkenrinde, den er zuvor mit einem Geißblatt am Stamm festgebunden hatte.
    Während der Trichter sich Tropfen für Tropfen füllte, fand Torak einen Stock, der sich zum Graben eignete, und förderte einige Sandlauchwurzeln zutage. Eine davon spießte er als Opfer für den Clanhüter an einem gegabelten Zweig der Birke auf, die restlichen verzehrte er. Sie waren so scharf, dass seine Augen tränten, wärmten ihn aber ein wenig.
    Anschließend entdeckte er noch etliche Beinwellwurzeln  – furchtbar sauer und klebrig – sowie in einer morastigen Mulde den besten Fund: ein Büschel saftiger Orchideenknollen. Sie waren so stärkehaltig, dass man das Gefühl hatte, Leim zu essen, aber wenn man nicht an Fleisch kommen konnte, waren sie das Nahrhafteste, was der Wald zu bieten hatte.
    Der Trichterkelch war inzwischen bis zum Rand gefüllt. Torak dankte dem Geist des Baumes, drückte die Borke fest auf die Wunde, um sie zu verschließen, und leerte den Kelch. Das Birkenblut schmeckte kühl und betörend süß. Die Kraft des Waldes strömte in seine Glieder.
    Nach dem Essen ging es ihm ein wenig besser.
    Ich schaffe es, sprach er sich Mut zu. Ich kann Hartriegelpfeile schnitzen und die Spitzen im Feuer härten, Schlingen aus Weidenröschen für Fallen anfertigen und Fische mit Brombeerdornen fangen. Der Wald wird mir helfen.
    Als er sich der Talsohle näherte und die vom Herbst zurückgebliebenen trockenen Laubhaufen durchwaten musste, zog der Nachmittag herauf. Seine Zuversicht schwand. Die Beine würden ihn nicht mehr lange tragen.
    Ohne Axt war es ein mühsames Unterfangen, sich eine Hütte zu bauen, doch abermals stand ihm der Wald bei. Er fand eine vom Sturm geknickte Birke, die auf einen Findling gestürzt war. Sie gab ein wunderbares Gerüst ab, an dessen Seiten er nur noch Zweige aufzuschichten brauchte. Obenauf häufte er vermodertes Laub. Die Hütte lag zudem an einem günstigen Ort, am Rand eines Weidendickichts, in dem er sich nötigenfalls rasch verstecken konnte.
    Die Luft wurde merklich kühler, doch Torak wagte es nicht, ein Feuer anzuzünden, und begnügte sich stattdessen damit, trockenes Gras in sein Wams, die Stiefel und die Beinlinge zu stopfen. Das kratzte zwar ein wenig und kitzelte, als die aufgescheuchten Käfer und Spinnen herauskrabbelten, hielt ihn aber warm.
    Wie ein Dachs schaufelte er Laub in die Hütte, kroch darunter und sog genießerisch den Holzgeruch ein. Dann sprach er dem Wald ein Dankgebet und schloss die Augen. Er war völlig erschöpft.
    Und außerdem hellwach.
    All die Gedanken, denen er gestern Nacht und den Tag über aus dem Wege gegangen war, stürmten nun auf ihn ein und setzten sich in ihm fest wie Kletten im Pelz eines Wolfes.
    Ausgestoßen. Verbannt. Ohne Clan.
    Wie war es nur möglich, dass er zu keinem Clan gehörte?
    Er dachte an die Lauchknolle, die er als Opfer für den Clanhüter in der Birke zurückgelassen hatte. Aber ohne Clan hatte er auch keinen Clanhüter. Keinen Clanhüter. Er rang nach Luft. Wie sollte er ohne den Schutz des Clanhüters überleben?
    Vorsichtig strich er über die Narbe unter dem Clanzeichen. Er konnte sich nicht erinnern, seit wann er diese Narbe trug; niemand kümmerte sich um Narben, jeder hatte mehr oder weniger viele alte Wunden. Eine Narbe auf dem Unterarm war von jener Nacht geblieben, als ihn der Bär angegriffen hatte, eine Narbe an der Wade zeugte vom Hauer eines Keilers. Renn hatte vom Biss eines

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