Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
Mal spürte Renn, wie das Mädchen in ihre Gedanken eindrang, wie es nun sogar noch tiefer eintauchte und nach ihren am besten gehüteten Geheimnissen suchte.
Nein!, schrie sie stumm. Sie kämpfte dagegen an, aber das Wassergras hielt sie fest.
Voller Verzweiflung hauchte sie erneut Leben in die winzige Flamme des Hasses. Sie wurde heller… umfing die gesamte Hütte mit Feuer…
Das Mädchen schrie auf.
Der Junge kippte nach hinten um.
Renn spürte, wie das Wassergras zerriss und davontrieb.
Mühsam richtete sich der Junge auf. »Sie dürfen gehen, wohin sie wollen. Gebt ihnen Kleidung und Nahrung, damit sie auf dem See zurechtkommen, und schickt sie nach Osten.«
Yolun sprang auf. »Nein! Das geht nicht!«
»Aber, Schamane!«, rief Ananda. »Bist du sicher?«
»Wir schicken sie weiter nach Osten«, sagte der Junge keuchend. »Nach Osten zum Eisfluss. Sie wird ihre Macht einsetzen. Er wird ihr helfen. Gemeinsam werden sie finden, wonach sie suchen.«
»Nein!«, protestierte Yolun.
»Lasst sie gehen«, befahl der Junge. »Wenn sie etwas Unrechtes tun, wird der See sie verschlingen, dann findet ihr ihre Knochen in der Bucht der Verlorenen Dinge treiben.«
Yolun sah wütend aus, Ananda eher verwirrt.
Zitternd machte Renn Anstalten, zum Hüttenausgang zu kriechen, doch da packte sie das blinde Mädchen plötzlich an den Handgelenken. Renn wollte sich losreißen, aber die knochigen Finger waren erstaunlich kräftig.
»Hütet euch vor dem kalten roten Feuer«, hauchte das Mädchen. »Hütet euch vor dem See, der tötet!«
Renn entwand sich ihrem Griff und wankte taumelnd ins Freie.
Kapitel 20
»Warum lassen sie uns gehen?«, fragte Bale. »Das ist zu einfach. Mir gefällt das nicht.«
Renn gab ihm keine Antwort. Die Begegnung mit den Zwillingen hatte sie zu sehr erschöpft, und wenn sie sich vorstellte, was sie in ihren Gedanken gesehen haben mochten, befiel sie blankes Entsetzen.
Ananda hatte sie in die Haupthütte zurückgebracht und sie allein gelassen. Yolun spähte herein und richtete den Blick auf Bale. »Raus«, knurrte er. »Ich gebe dir Verpflegung und seefeste Kleidung.«
Renn wollte ihm folgen, doch Yolun stieß sie grob zurück. »Du nicht! Um dich kümmert sich eine Frau!«
Renn fand bald heraus, dass Yolun nicht der Einzige war, dem es nicht passte, dass sie freigelassen worden waren. Als Dyrati ihr die neuen Kleider brachte, weigerte sie sich, Renn ins Gesicht zu sehen, und warf die Sachen einfach auf die Matte.
»Deine Hirschledersachen brauchst du nicht«, sagte sie mürrisch. »Zu schwer, wenn sie nass sind, zu steif, wenn sie trocken sind. Zieh das hier an.« Sie zeigte auf ein Paar halblange Beinlinge aus weichem Elchleder und ein ärmelloses Wams aus fein gewebtem Riedgras. »Deine Clanfedern musst du dir selbst draufnähen.«
Es folgte ein unangenehmes Schweigen, in dem sich Renn umzog und die Federn ihres Totemtiers abschnitt, um sie später an den neuen Sachen zu befestigen. Als sie Dyrati danken wollte, ging das ältere Mädchen sofort auf die Tür zu.
»Was habe ich getan, Dyrati?«, fragte Renn.
Dyratis Mund wurde ganz schmal. »Als wüsstest du das nicht. Du kannst vielleicht unseren Schamanen täuschen, mich hingegen täuschst du nicht.«
»Was meinst du damit?«
Dyrati drehte sich um und machte das Zeichen der Hand. »Bleib weg! Ich habe ihnen erzählt, was du bist! Ich habe ihnen erzählt, was wir immer hinter deinem Rücken geflüstert haben. Du mit deinen schwarzen, schwarzen Augen und deinen Träumen, die wahr werden! Du bringst Unglück. Alle wissen das. Alle wissen, dass jeder, der dir zu nahekommt, Schaden nimmt!«
Renn wurde übel. »Das stimmt nicht.«
»Du weißt genau, dass es stimmt! Dein Bruder. Dein Vater. Torak. Jemand sollte diesen Robbenjungen warnen, ehe es zu spät ist!« Damit war sie draußen und ließ Renn alleine zurück.
Renn war erschüttert. Was, wenn Dyrati recht hatte?
Ach, Unsinn!, sagte sie sich. Dyrati ist nur ein gehässiges Mädchen, das dich noch nie gemocht hat.
Leider mochte sie niemand so richtig. Sie duldeten sie, weil sie Fin-Kedinns Blutsverwandte war, aber sie fürchteten sich vor ihrer Begabung für die Schamanenkunst.
Ihr wurde ganz elend zumute und sie sehnte sich nach Torak. Torak, der Einzige, der jemals ihr Freund gewesen war.
Auf dem Steg kam ihr Bale entgegen, der nun in Elchlederbeinlinge und ein Wams aus silbriger Fischhaut gekleidet war. »Alles klar?«, fragte er, als er ihr Gesicht sah.
»Nein!«,
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