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Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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hielt erschrocken die Luft an – und wachte auf.
    Bale war verschwunden.
    Als sie aus dem Unterschlupf krabbelte, sah sie ihn. Er beobachtete zwei Schilfboote, die aus ihrer Bucht hinauspaddelten.
    »Ich habe geträumt«, erzählte sie ihm. »Torak geht es schlecht, er hält nicht mehr lange durch.«
    Bale nickte grimmig. »Und zu allem Unglück ist er auch noch weit weg von hier.«
    »Woher weißt du das?«
    Er deutete auf die Boote. »Sie haben in den vergangenen fünf Tagen hier nach Fischen gesucht, deshalb wussten sie nicht, wer wir sind. Sie waren sehr hilfsbereit und haben mir erzählt, was uns die anderen vorenthalten haben. Jemand hat Toraks Bogen im Röhricht gefunden.«
    »Im Röhricht?«, fragte Renn entgeistert.
    »Nicht weit von der Insel des Verborgenen Volkes entfernt. Der Otterschamane hat uns in die falsche Richtung geschickt.« Er schlug sich in die Handfläche. »Ach, Renn, wir waren so nah dran! Hätten wir es nur gewusst, dann wären wir inzwischen vielleicht längst bei ihm!«
    »Aber … warum haben sie uns in die falsche Richtung geschickt?«
    »Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr. Wir sind weiter von ihm entfernt als jemals zuvor. Und wenn du recht hast, bleibt ihm nicht mehr viel Zeit.«
    Sie überlegte rasch. »Wie lange brauchen wir bis dorthin?«
    »Vogelfluglinie vielleicht… einen Tag. Aber mit dem Boot und den vielen Inseln dazwischen? Mindestens zwei Tage oder sogar drei.«
    »Dann lass uns aufbrechen!«
    »Nicht sofort.« Er zeigte noch Osten. Über dem Eisfluss ballten sich grau-violette Wolken zusammen. Der Weltgeist war unruhig.
    »Aber wir können es immerhin versuchen!«, beharrte sie verzweifelt.
    »Wenn ich mich auf dem See auskennen würde, dann ja. Aber hier draußen, bei einem heraufziehenden Gewitter? Nein. Wenn wir ertrinken, können wir Torak nicht mehr helfen.«
    Renn lief zum Ufer. Jetzt erkannte sie, dass sich alles verschworen hatte, um sie hierher zu bringen. Vielleicht hatte sie der Otterschamane deshalb nach Osten geschickt: um sie zu zwingen, etwas zu tun, wogegen sie sich seit jeher gewehrt hatte.
    Mit dem Rücken zum Eisfluss wandte sie sich nach Westen. Zerklüftete schwarze Inseln trieben auf dem bernsteinfarbenen See. Irgendwo jenseits davon starb Torak an der Seelenkrankheit.
    »Dann bleibt mir keine andere Wahl.« Sie schaute Bale an. »Wir müssen von hier aus Hilfe schicken.«
    »Was meinst du damit?«
    Sie holte tief Luft. »Ich muss die Schamanenkunst anwenden.«

    »Das ist doch Wahnsinn, Renn!«, brüllte Bale und kämpfte darum, das kleine Boot im Rachen des Sturmes über Wasser zu halten. »Wir müssen ans Ufer zurück!«
    »Noch nicht!«, schrie Renn. »Wir müssen an dieser letzten Insel vorüber! Ich brauche einen ungehinderten Blick nach Westen, sonst erreicht ihn die Hilfe nicht!«
    »Aber das Boot ist leck!«
    »Bale, wenn dir Torak etwas bedeutet, paddel weiter! «
    Der Himmel wurde schwarz, der Wind heulte in ihren Ohren, riss an ihrer Kleidung, peitschte ihnen die Haare ins Gesicht und wühlte den See zu einem brodelnden Wildwasser auf. Die Wellen warfen das kleine Boot wie Treibholz hin und her und nur Bales Geschick bewahrte sie vor dem Kentern.
    Irgendwie gelang es Renn, kniend auf dem Querholz auszuharren, sich mit einer Hand am Bootsrand festzuklammern und die andere in ihren Medizinbeutel zu tauchen. Was sie am Ufer hatte tun können, war erledigt. Nun war nur noch eine allerletzte Beschwörung erforderlich.
    Als sie alles, was sie brauchte, herausgezogen hatte und in die Höhe hielt, verspürte sie einen Schauer erbitterter Befriedigung. Mochte die Natternschamanin auch Toraks Namenskiesel haben, sie, Renn, besaß etwas mindestens ebenso Wirkungsmächtiges.
    »Was ist das?«, rief Bale.
    »Seine Haare«, schrie sie zurück. »Im vergangenen Winter brauchte er eine Verkleidung, da habe ich sie abgeschnitten und aufbewahrt!«
    Schwankend richtete sie sich auf, hob die Faust und Toraks lange schwarze Locken wehten im Wind.
    Bale packte sie am Gürtel, um sie zu stützen. »Zum letzten Mal! Wir müssen zurück ans Ufer! Es wird gleich hageln! Wenn das Boot durchschlagen ist, gehen wir unter!«
    »Noch nicht!«
    Renn warf den Kopf zurück und heulte den Zauber in das Unwetter – sie rief die Macht des Clanhüters der Raben an, der über Eis und Berge, über Wald und Meer fliegt – sie rief ihn an und schickte ihn aus, nach Torak zu suchen – und der Wind riss ihr den Zauber von den Lippen und trug ihn über den See nach

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