Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
war kein Laut zu vernehmen.
»Sie lügt«, rief Yolun schließlich. »Ein Seelenesser? Und das sollen wir ihr einfach so glauben?«
Die Anführerin hatte die Augen nicht von Renn abgewandt. »Das Mädchen spricht die Wahrheit«, sagte sie. »Allerdings nicht die ganze Wahrheit.« Mit kurzem Nicken fügte sie abschließend hinzu: »Der Schamane wird die restliche Wahrheit ans Licht bringen.«
Kapitel 19
»Sag nichts«, flüsterte Renn Bale zu, als Yolun sie auf einem in Rauchschwaden gehüllten Steg entlangstieß.
Bale neigte den Kopf zu ihr. »Du hast Ananda gehört. Ihr Schamane wird die Wahrheit herausfinden. Wie sollen wir ihn daran hindern?«
»Du darfst nur nicht an Torak denken«, erwiderte sie. »Richte deine Gedanken auf das stärkste Gefühl, das du kennst. Wut. Hass. Kummer.«
Er runzelte die Stirn. »Das sind alles schlechte Gefühle.«
Der Rauch teilte sich, und sie fanden sich auf einer runden Plattform wieder, auf der ein kleiner Unterstand aus Schilfrohr stand. Der Eingang war mit den Zähnen eines gewaltigen Hechtes gesäumt. Darüber schwamm ein wunderschöner aus schimmerndem Erlenholz geschnitzter Otter.
Yolun zwang sie, auf die Knie zu gehen, und Ananda winkte sie hinein. Voller böser Ahnungen krochen sie nach drinnen.
Renn stieg der feuchte Geruch nach Röhricht in die Nase, das Platschen und Gurgeln des Sees war deutlich zu hören. Durch Lücken im Fußboden spielte das Flimmern seiner rastlosen Wellen über die Wände. Sie hörte, wie Bale erstaunt die Luft anhielt. Dann sah sie, warum.
Die beiden Kinder saßen mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden. Ihre Köpfe waren nach vorne geneigt, ihr helles Haar floss auf den Boden. Beide trugen ärmellose Hemden aus silbrigen Fischhäuten, die mit Streifen grün gefärbten Leders zu einem Muster aus wogendem Schilfrohr zusammengenäht waren.
Zwillinge, dachte Renn. Furcht befiel sie. Zuerst die Rehkitzzwillinge, dann der zweiköpfige Fisch. Und jetzt das. Was hatte das zu bedeuten?
Ananda und Yolun drückten ihren und Bales Kopf tiefer nach unten, bis ihre Stirnen den Boden berührten. »Schamane«, sagten sie.
Die Zwillinge hoben gleichzeitig die Köpfe.
Ihre Haare glänzten grünlich-golden wie vom Mehltau befallenes Schilfrohr, ihre Haut hatte die durchscheinende Blässe frisch Ertrunkener. Die Augen des Jungen waren hell vom Wasserlicht, aber die des Mädchens waren von einem trüben blinden Weiß.
»Sie sieht die Welt des Geistes«, sagte Yolun ehrfürchtig.
»Wie ist das möglich?«, fragte Bale. »Sie können nicht älter als zehn Sommer sein?«
Die Lippen des Jungen zogen sich zurück und entblößten spitze graue Zähne. »Das Alter hat keine Bedeutung«, sagte er mit dünner hoher Stimme. »Wir sind der wiedergeborene Geist. Wir sind der Schamane.«
Renn lief es eiskalt den Rücken hinunter.
»Wir waren hier, als alles anfing«, sagte der Junge. »Wir haben gesehen, wie die Große Flut das Land sauber gewaschen hat. Wir haben gesehen, wie der See zum See wurde.«
Das blinde Mädchen stöhnte. Das Gesicht des Jungen spannte sich vor Kummer. »Nun aber hat das Böse den See entehrt! Der Schrecken kommt in der Nacht!«
Ananda meldete sich zu Wort: »Schamane, diese Fremden haben zugegeben, dass sie den Ausgestoßenen kennen, der den geweihten Lehm gestohlen hat.«
»Der Ausgestoßene hat ihn nicht genommen«, sagte der Junge. »Er hat nur veranlasst, dass er genommen wird.«
»Aber, Schamane«, sagte Yolun, »das ist doch das Gleiche.«
»Nein«, erwiderte der Junge.
»Dann sag uns«, bat ihn Ananda, »warum die beiden hergekommen sind. Was sollen wir mit ihnen tun?«
Das blinde Mädchen legte die Hand auf das Knie seines Zwillings, und er nickte, als hätte sie etwas gesagt. »Wir bringen sie zum Sprechen.« Er lächelte ein spitzes graues Lächeln. »Wir reiten mit den Geistern auf den Stimmen von Tauchvogel und Schilf. Wir holen die Wahrheit ans Licht.« Dann, an Yolun gewandt: »Schließe die Dunkelheit ein.«
Yolun rollte eine Matte vor dem Eingang herunter.
Renn kam sich vor wie in einer Falle. Wenn diese unheimlichen Kinder herausfanden, dass sie Torak helfen wollten … wenn sie tatsächlich ihre Gedanken lesen konnten…
Im Dämmerlicht sah sie, wie der Junge einen Beutel in die Hand nahm, der aus einem ganzen Lachs gefertigt zu sein schien.
Aus dem Fischmaul zog er ein Stück Schilfrohr, das er mit dem Daumennagel aufschlitzte. Dann blies er sanft in den Schlitz hinein und die Hütte füllte
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