Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
nur von einem dieser beiden kostbaren Besitztümer zu trennen.
Gegen Mittag kamen sie in einen unheimlichen Landstrich, wo sich riesige Eisschollen türmten. Man vernahm dumpfes Ächzen und hallendes Knacken. Die Hunde legten die Ohren an und Inuktiluk griff nach dem Adlerklauenamulett an seiner Kapuzenjacke.
»Das ist Küsteneis«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Hier kämpfen Landeis und Meereis um die Vorherrschaft. Wir müssen zusehen, dass wir rasch weiterkommen.«
Renn legte den Kopf in den Nacken und betrachtete eine gen Himmel ragende spitze Eissäule. »Kann es sein, dass hier Dämonen hausen?«
Der Eisfuchsmann warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. »Es ist einer jener Orte, wo sich die Meerdämonen ganz dicht an die Hülle unserer Welt heranwagen. Sie finden keine Ruhe. Sie wollen heraus.«
»Und gelingt es ihnen?«, fragte Torak.
»Manchmal schlüpft einer durch eine Ritze.«
»Bei uns im Wald ist es genauso«, sagte Renn. »Die Schamanen halten Wacht, aber ein paar Dämonen entwischen trotzdem.«
Inuktiluk nickte. »Diesen Winter war es noch schlimmer als sonst. In der Dunklen Zeit, als die Sonne tot war, ließ ein Dämon eine riesige Eisinsel aufs Festland prallen. Dabei wurde die Hütte einer Familie vom Walrossclan zerschmettert und alle Bewohner kamen ums Leben. Kurz darauf sandte ein anderer Dämon eine Krankheit, die einer Frau aus meiner eigenen Sippe das Kind raubte. Danach ging ihr großer Sohn ins Eis hinaus und kam nicht mehr zurück. Unsere Suche blieb vergeblich.« Er hielt kurz inne. »Darum müssen wir euch ja zur Umkehr zwingen. Ihr bringt uns großes Unheil.«
»Wir bringen kein Unheil«, widersprach Torak.
»Wir sind dem Unheil bloß gefolgt«, setzte Renn hinzu.
»Wie meint ihr das?«
Die beiden blieben ihm die Antwort schuldig, allerdings war Torak nicht wohl dabei, denn inzwischen mochte er Inuktiluk gut leiden.
Weiter ging es durch zerklüftete Eisgebirge, bis das Küsteneis schließlich in eine flachere, leicht runzlige Landschaft überging. Zu Toraks Verwunderung richtete sich Inuktiluk hoch auf und atmete tief durch. »Na endlich – Meereis!«
Torak konnte seine Erleichterung nicht teilen. Hier schien sich das Eis unter den Stiefeln zu biegen! Befremdet beobachtete er, dass es sich sanft hob und senkte, wie die Flanke eines riesigen Tieres.
»Ja«, bestätigte Inuktiluk, »es wogt mit dem Atem der Meermutter. Schon bald, im Mond der Tosenden Flüsse, fängt es an zu tauen, und dann ist es lebensgefährlich, sich hier aufzuhalten. Dann tun sich riesige Risse auf – Gezeitenrisse nennen wir sie – und verschlingen einen, aber jetzt kann man hier noch gut jagen.«
»Was jagt man denn hier so?«, erkundigte sich Torak. »Vorhin auf dem See habe ich Hasenspuren gesehen, aber hier gibt es überhaupt nichts.«
Zum ersten Mal nickte Inuktiluk anerkennend. »Die Spuren sind dir also aufgefallen? Das hätte ich einem Waldjungen wie dir nicht zugetraut.« Er deutete auf seine Füße. »Unsere Beute lebt unter dem Eis. Wir machen es wie die Eisbären. Wir jagen Robben.«
Renn schauderte. »Fressen Eisbären auch Menschen?«
»Der Große Wanderer frisst alles«, entgegnete Inuktiluk und bohrte das Rentiergehörn in die Eisdecke, damit die Hunde stehen blieben. »Aber Robben frisst er am liebsten. Er ist der beste Jäger, den es gibt. Er wittert eine Robbe durch eine armdicke Eisschicht.«
»Warum halten wir an?«, fragte Torak.
»Weil ich jagen gehe.«
»Aber… das geht nicht! Wir können nicht zwischendurch anhalten und jagen!«
»Und was willst du nachher essen? Auch die Hunde brauchen mehr Speck und Fleisch.«
Torak schwieg beschämt, aber insgeheim brannte er vor Ungeduld. Sechs Tage waren seit Wolfs Entführung schon vergangen.
Inuktiluk schirrte den Leithund ab und schritt bedächtig davon. Der Hund wurde bald fündig. »Das Atemloch einer Robbe«, sagte Inuktiluk leise. Das Loch war winzig, ein flaches Hügelchen mit einer kaum daumenbreiten Öffnung. Der Rand war eingekerbt, weil die Robbe daran herumknabberte, damit das Loch nicht wieder zufror.
Inuktiluk holte ein Rentierfell vom Schlitten und legte es auf der dem Wind abgekehrten Seite des Atemlochs mit den Haaren nach unten auf die Eisfläche. »Das dämpft meine Schritte und ich mache nicht mehr Lärm als ein Bär auf zottigen Tatzen.« Dann legte er eine Schwanenfeder auf das Loch. »Kurz vor dem Auftauchen atmet die Robbe aus und die Feder bewegt sich. Dann muss man schnell sein. Die Robbe
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