Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
sie ihm ins Ohr.
Was war nur los mit ihm? Hatte man ihm einen Schlaftrank eingeflößt?
»Wer ist da?«, ertönte eine unwirsche Frauenstimme.
Renn hielt erschrocken inne.
Schwacher Fackelschein erschien am anderen Ende der Höhle.
»Wo bist du, Junge?«, rief die Frau. »Antworte doch!«
Renn tastete blindlings umher. Wo konnte man sich hier verstecken? Sie ertastete die Steinplatte vor einer Nische, aber die Platte war zu schwer, um sie aufzuschieben. Such weiter! Mach schnell!
Schritte. Der Fackelschein wurde heller.
Renn entdeckte eine andere Steinplatte, die sie unter Aufbietung aller Kräfte verschieben konnte, drückte sie auf – leise, ganz leise! –, zwängte sich in die Nische und schob die Platte wieder zu.
Ein schmaler Lichtstreif drang von draußen herein. Renn hielt den Atem an.
Die Schritte verstummten. Wer immer da gekommen war, er stand dicht vor ihrem Versteck.
Renn wandte den Kopf ab, damit nicht womöglich jemand ihren Blick spürte, und starrte ins Dunkel.
Ein gelbes Augenpaar erwiderte ihren Blick.
Kapitel 26
EINEN HERZSCHLAG LANG erspähte die erschrockene Renn einen scharfen Schnabel, der einem Wal den Bauch aufschlitzen konnte, und kräftige Fänge, die ein Rentierkalb zu einem luftigen Horst emportragen konnten.
Renn zog die Knie an und drückte sich an die Wand. Die Nische war nicht sehr groß und bot kaum genug Platz für sie beide. Waffen waren hier nutzlos. Renn malte sich aus, wie ihr die spitzen Fänge Gesicht und Hände zerfleischten. Irgendwann würden die Seelenesser die Nische öffnen und das Zerstörungswerk des Adlers vollenden.
»He, Junge!«, rief die Seelenesserin.
Der Adler zog die mächtigen Schwingen hoch und beäugte Renn. Eine Fackel wurde knarrend in eine Felsspalte gezwängt, dann hörte man eine Fledermaus quieken.
»Da bist du ja!«, sagte die Fledermausschamanin.
Renn wagte nicht, sich zu rühren.
»Wach auf, Junge!«
»Mir scheint, du hast ihn gefunden, Nef«, sagte eine andere Frau. Ihre Stimme war tief und melodisch wie das Rauschen eines Baches. Renn bekam eine Gänsehaut.
»Ich kriege ihn nicht wach«, erwiderte die Fledermausschamanin. Es klang ehrlich besorgt.
»Er hat zu viel Wurzel gekaut«, sagte die andere spöttisch. »Lass ihn liegen. Wir brauchen ihn erst morgen.«
Der Adler spreizte die Flügel und bedrängte Renn, aber wo sollte sie hin? Es war viel zu eng. Sie machte sich noch kleiner. Ein Gewölle knirschte unter ihrer Hand.
Die Seelenesser verstummten. Hatten sie etwas gehört?
»Was machst du da?«, fragte die Seelenesserin mit der sanften Stimme.
»Ich drehe ihn um«, erwiderte die Fledermausschamanin. »Er darf nicht auf dem Rücken liegen. Sonst erstickt er, wenn er brechen muss.«
»Na und? Er ist es nicht wert, dass …«
»Was ist?«
»Ich spüre etwas. Seelen. Es sind freie Seelen um uns.«
Stille. Dann wieder das hohe Quieken.
»Ist ja gut, meine Schöne«, gurrte die Fledermausschamanin. »Aber wessen Seelen? Ist eins von den Opfertieren verendet?«
»Das glaube ich nicht. Es ist eher… Nein, es fühlt sich anders an.«
»Lass uns trotzdem nachsehen.«
Die Angst ließ Renn zu Eis erstarren.
»Halt mal meine Fackel«, bat die Fledermausschamanin, und ihre Stimme wurde leiser, als sie sich entfernte.
Renn hörte erst Stein auf Stein scharren, dann fauchte ein Vielfraß zornig.
»Der ist noch nicht tot«, stellte die Sanfte fest.
Die Fledermausschamanin brummelte etwas und schob die Steinplatte wieder zu.
Die nächste Platte wurde aufgeschoben. Renn hörte einen Otter quieken.
Eines nach dem anderen begutachteten die beiden Seelenesserinnen die Opfertiere und näherten sich dabei stetig Renns Versteck. Renn zerbrach sich den Kopf, aber es gab keinen Ausweg. Wenn sie weglief, sah man sie. Blieb sie, wo sie war, saß sie wie ein Wiesel in der Falle. Sie musste die beiden Frauen irgendwie davon abbringen, zu ihr hereinzuschauen. Wenn ihr das nicht gelang, war sie so gut wie tot.
In der Nische neben ihr kläffte ein Fuchs. Gleich waren sie da. Los, denk nach!
Es gab nur eine Möglichkeit.
Renn kniff die Augen zu, verschränkte die Arme vor dem Gesicht und versetzte dem Adler einen Tritt.
Der mächtige Raubvogel stieß ein schrilles »Kleck-kleck-kleck« aus, und ein Luftzug strich über Renns Hände, als die scharfen Fänge sie beinahe streiften.
Die beiden Seelenesserinnen blieben stehen.
Der Adler plusterte sich zornig auf, dann putzte er sein zerzaustes Gefieder.
Renn hockte mit den Armen
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