Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Männer und Frauen das Ufer entlanggeeilt.
Torak rang erschüttert nach Atem.
Das da im Wasser war kein Baumstamm.
Es war Oslak.
Kapitel 6
OSLAK HATTE GANZ sichergehen wollen. Er hatte seine Fesseln durchgebissen, sich aus der Krankenhütte geschlichen, war auf den Hüterfelsen geklettert und hatte sich in die Tiefe gestürzt.
Es war ein tödlicher Sturz gewesen, so hoffte Torak wenigstens. Die Vorstellung, dass Oslak womöglich noch am Leben gewesen war, als ihn der Fluss in die Stromschnellen geworfen hatte, war ihm unerträglich.
Als er ins Rabenlager zurückkam, herrschte bedrückende Stille. Vedna hatte ihr Wehklagen eingestellt und sah mit ausdruckslosem Gesicht zu, wie ein paar Männer den Leichnam auf einer Trage ins Lager brachten. Dabei gaben sie Acht, ihn nicht mit bloßen Händen zu berühren. Niemand wollte Gefahr laufen, die Seelen des Toten zu verärgern, die immer noch um ihn waren.
Als die Trage neben Oslaks Hütte stand, hockte sich Saeunn daneben, streifte einen ledernen Fingerling über und malte dem Verstorbenen mit rotem Ocker die Todeszeichen auf, damit die Seelen auf ihrer Reise zusammenblieben. Anschließend würde man ihn in den Wald bringen, und zwar so bald wie möglich, damit seine Seelen nicht in Versuchung kamen, im Lager zu verweilen.
Fin-Kedinn stand mit unbewegter Miene ein wenig abseits. Er ließ sich seine Trauer nicht anmerken, sondern gab Anweisung, die Wachen bei der kranken Bera zu verdoppeln und Oslaks Hütte samt seinen Besitztümern anzuzünden. Torak sah ihm trotzdem an, dass er über Oslaks Tod tief erschüttert war. Schließlich hatte er Oslak versprochen, auf ihn Acht zu geben. Dass ihm das nicht gelungen war, würde er sich kaum je verzeihen können.
Schuld.
Auch Torak hatte das Gefühl, schwere Schuld auf sich geladen zu haben.
Umso mehr verspürte er den Drang, etwas zu unternehmen. Wenn die Raben den Toten fortbrachten, wollte er ein Stück zurückbleiben, schließlich gehörte er nicht richtig zur Sippe, und die Gelegenheit nutzen, sich davonzustehlen und auf die Suche nach einem Mittel gegen die Krankheit zu machen.
Doch vorher musste er noch etwas klären.
Als die Zeremonie begann und die Frauen Lehm für die Trauerbemalung holen gingen, verließ Torak unauffällig das Lager und lief zum Hüterfelsen. Wenn sein Verdacht begründet war, wenn das blättergesichtige Geschöpf tatsächlich etwas mit Oslaks Tod zu tun hatte, mochte es Spuren hinterlassen haben.
Zum Fluss hin fiel der Felsen schroff ab, doch auf der Ostseite war der Abhang zwar steil, aber mit einiger Mühe und Umsicht zu erklimmen. Der Lehmboden davor war mit Spuren übersät, Lehmspuren führten auch seine Flanke hinauf.
Das Spurengewirr war nicht leicht zu deuten, doch es gelang Torak, eine schwache, etwa einen Tag alte Fußspur zu entdecken. Sie stammte von Saeunn und führte bis ganz nach oben. Woanders sah man Pfotenabdrücke, durchsetzt mit vierzehigen Krallenspuren. Dort hatte sich ein Hund mit einem Raben gezankt. Ein Stück daneben fand Torak Männerspuren, allerdings hatten sich nur Zehen und Fersen in den weichen Boden eingedrückt. Oslak war den Felsen in wilder Hast emporgestürmt.
Torak hatte einen dicken Kloß im Hals. Trauern kannst du später, ermahnte er sich, wenn du zum Großen Wald unterwegs bist.
Langsam stieg er in Oslaks Spur den Abhang hoch.
Im Laufen hatte der Kranke Kiesel und Moosbüschel losgetreten. An einer Stelle war er ausgeglitten und hatte eine schmale Blutspur hinterlassen, dann hatte er sich wieder aufgerappelt und war weitergehastet.
Er ist gerannt, als säßen ihm sämtliche Dämonen der Anderen Welt im Nacken, dachte Torak.
Oben auf der Felskuppe bestätigten sich Toraks Befürchtungen. Neben Oslaks Spuren fanden sich andere, viel kleinere. Sie waren kaum zu erkennen, aber Torak entnahm ihnen trotzdem, dass der Betreffende nicht umhergelaufen war, sondern ruhig am Abhang gestanden und zugesehen hatte, wie Oslak in den Tod sprang.
Die Fußabdrücke waren klein wie von einem acht, neun Sommer alten Kind.
Nur dass die Zehen mit Klauen bewehrt waren.
Als Torak wieder ins Lager kam, wollte der Trauerzug eben aufbrechen. Am Langfeuer zerstieß Renn Erdblut für die Bestattungszeremonie.
Sie hatte sich das Gesicht mit Lehm beschmiert, wie es die Raben bei Todesfällen zu tun pflegten, aber die graue Kruste war von Tränenspuren durchzogen. Torak hatte Renn noch nie weinen sehen. Als er näher kam, blinzelte sie heftig.
Torak kauerte sich
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